Man kann sich der Erkenntnis nicht länger verschließen, dass sich die soziologische Realität gründlich gewandelt hat. Wer gehört zur Mitte der Gesellschaft? Ist der Begriff der Mitte nicht längst überholt? Wer ist heute noch ein Arbeiter, gibt es die Arbeiterklasse noch? Lösen sich die Klassen, Schichten und Milieus auf?
Keine lineare, zwangsläufige Entwicklung
Für die adäquate Diskussion der gesellschaftlichen Entwicklung, für den demokratischen Diskurs, wohin sich unser Land entwickeln soll, erweist es sich als ausgesprochen problematisch, dass wir mit dem begrifflichen Instrumentarium des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts versuchen, die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Man wird diesem grundsätzlichen Wandel nicht gerecht, wenn man ihn als lineare, zwangsläufige Entwicklung betrachtet, die quasi von selbst zu einer Ökotopia führt, wenn nicht dieser Prozess durch einen Rechtsruck finsterer Kräfte noch verhindert wird.
Doch aus dem erwünschten Multikulturalismus wird ein unerwünschter Multitribalismus entstehen, worauf die Clan-Kriminalität bereits hinweist. Merkels Thesen zum Multilateralismus umschreiben im Grunde nur, dass nationalstaatlich basierte Kräfte wie die USA, China, Russland, Indien oder die Türkei um Hegemonie kämpfen, und Europa sich angesichts dieser Kämpfe auf die Zuschauertribüne begeben hat. Wenn China das neokolonialistische Projekt der Neuen Seidenstraße vollkommen realisiert, wird Europa zum Rohstoff- und Absatzmarkt, zu einer Art Kolonie.
Verantwortung wird durch Hypermoral ersetzt
Digitalisierung und Bedeutungsverlust Europas auf den Feldern Wissenschaft und Technik beschleunigt durch den deutschen Hang zum ökonomischen Suizid (Energiewende, Fahrverbote, Bildungszerstörung durch Kompetenzpädagogik) sind nur weitere Phänomene des selbstverschuldeten Niedergangs, dessen Ursache sich in der Durchideologisierung des Lebens unter Verzicht auf kritische Rationalität findet.
Verantwortung wird durch Hypermoral, Fakten durch Wünsche, Wissenschaft durch Ideologie ersetzt. Symptomatisch hierfür ist der Abschied von den Werten der Aufklärung, die Denunziation des mündigen Bürgers als AfD-Begriff, wie es jüngst in einem antiaufklärerischen Artikel des Steinmeier-Biografen Torben Lütjen in der „FAZ“ geschah. Populismus ist demzufolge die Vermessenheit des mündigen Bürgers, sich eine eigene Meinung zu bilden und nicht gläubig den Vorgaben von „Interpretationseliten“ zu folgen.
Wie der Autor Klaus-Rüdiger Mai die gesellschaftlichen und mentalen Veränderungen in Europa wahrnimmt, erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe der „Tagespost“ vom 28. Februar 2019. Kostenlos erhalten Sie diese Ausgabe hier.
DT