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Religiöse Rede an den Rändern der Sprache

„Feuerschlag vom Himmel“: Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück bringt Literatur und Religion ins Gespräch.

Ziel der Poetikdozentur ist es, auf die Präsenz religiöser Motive in der Gegenwartsliteratur hinzuweisen und Theologie und Literaturwissenschaft näher ins Gespräch zu bringen. Renommierten Autorinnen und Autoren ebenso wie Newcomern der Literaturszene soll ein Forum geboten werden, Einblicke in das eigene literarische Schaffen und seine Bezüge zur Religion zu geben. Zugleich soll ein interdisziplinärer Austausch über das Verhältnis von Literatur und Religion angestoßen werden.“ Soweit zur Motivation des Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück, der 2016 an der katholischen Fakultät der Universität Wien eine Poetikdozentur zum Thema „Literatur und Religion“ ins Leben gerufen hat.

Und was sich seitdem regelmäßig im „Theologenhörsaal“ zuträgt, ist beeindruckend: Sibylle Lewitscharoff, Thomas Hürlimann, Nina Gomringer, Alois Brandstetter, Christian Lehnert, Felicitas Hoppe, Michael Köhlmeier, Marion Poschmann, Ilija Trojanow, Barbara Frischmuth und Uwe Kolbe – die Reihe der Poetikdozenten, die völlig unterschiedlich hinsichtlich Modus und Resultat über Literatur und Religion nachdenken, ist beeindruckend. Nicht weniger im Übrigen die multimediale Dokumentation, die die circa einstündigen Vorlesungen zum weitgefassten Thema begleitet: Auf der Homepage ist nicht nur die Audiodatei verfügbar, sondern auch jeweils ein Video und eine Kurzzusammenfassung. Dieser Service der Sonderklasse kommt den Studierenden und Universitätsangehörigen, aber auch den zahlreichen literaturinteressierten außeruniversitären Gästen sehr entgegen, und hilft beim eigenständigen Weiterverfolgen der ergiebigen Fragenstellung: „Gerade die Literatur der Gegenwart ist für Theologie und Religionswissenschaft interessant. Nicht nur, um die Sprache zu schulen, nicht nur, um den Horizont zu weiten, nicht nur, um mit einem Spiegel konfrontiert zu werden – sondern auch und vor allem, um literarisch verhandelte Sujets selbst aufzugreifen und im Eigenen weiter zu bedenken.“

Noch tiefer führen die mittlerweile drei Bände der Poetikdozentur-Reihe. Band 1 dokumentiert unter dem Titel „Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion“ (Herder 2017), die erste Runde der Poetikvorlesungen und Band 2 „Der große Niemand“ (Herder 2018), spürt religiösen Motiven im literarischen Werk von Thomas Hürlimann nach.

Im neu vorliegenden Band 3, „Feuerschlag des Himmels. Gespräche im Zwischenraum von Literatur und Religion“, tritt Herausgeber Jan-Heiner Tück „im Vorlauf oder im Nachgang“ der jeweiligen Poetikvorlesungen in einen Dialog mit den Autoren und Poetikdozenten. Und es ist ein Feuerwerk an Esprit, Anspruch, Charisma und Sprachkompetenz, das sich dem Leser zeigt.

Egal, in welches der sieben ausführlichen Gespräche man sich hineinbegibt, jedes für sich ist Genuss und Gewinn. Und jedes Gespräch bringt Überraschendes:Sybille Lewitscharoff etwa begründet die bleibende Spannung des biblischen Textes mit einer gewissen Dunkelheit, dem Verzicht, alles auszuformulieren: „In der Bibel glost zwischen den parataktischen Knappsätzen ein schwarzes Loch nach dem anderen“; was die Literatur betreffe, so gebe es diesen unvergänglichen Reiz ausschließlich bei Franz Kafka: „Er ist der einzig mir bekannte moderne Schriftsteller, in dessen Prosa sich biblisches Strandgut und eine verzweifelte Suche nach Gott, der sich unaufhörlich entzieht und zugleich eine bedrohliche Schimäre bleibt, mit bohrender Intensität findet.“ Der Band „Feuerschlag des Himmels“ setzt eine interessante Dynamik in Gang; die Autoren lassen sich im Gespräch mit dem Theologen Tück auf Tiefenschichten ihrer eigenen Texte ein, ohne aber die handwerkliche und „materielle“ Dimension ihres Schreibens zu vergessen. Speziell geprägt ist das Gespräch mit der Lyrikerin Nina Gommringer: Da geht es zunächst um die SS-Vergangenheit ihres Großvaters und über die Grenzen des Menschen, wo er ins Böse und Grausame kippen kann: „Erstaunlich die unter uns, die langes Leid ertragen und dabei von einer geistigen Idee, Sprache, Inspiration, ethisch-moralischem Gerüst gestützt sind. Vielleicht sind sie als ,selig‘ zu bezeichnen.“ Dann führt das Gespräch zum Gedicht, dessen Wesen subtil erfasst und beschrieben wird, um dann abzutasten, welche Möglichkeiten der (Er)Fassung des Schrecklichen in diesen kurzen Texten liegen. Tück und Grommringer kommen überein, welche Erschütterung die Aufzählung der Namen von Toten – Gommringer hatte bei ihrer Vorlesung Namen der Opfer des Attentats von Orlando vorgelesen – bedeutet.

In sich schon poetisch ist die Rede Christian Lehnerts über das Gedicht. Der Dichter und Theologe verortet Gedichte ähnlich wie „religiöse Redeformen“ an den Rändern der Sprache, dort wo die Worte noch nicht beständig seien und ins Ungesagte glitten: „Beide Sprachformen sind bildhaft und lebendig – sie haben noch nicht, was sie sagen wollen, sondern finden den Ausdruck erst im Sprechen und in der Form. Gedichte wie Gebete haben ihre Wahrheit in dieser Suche nach Worten.“ Lehnert spricht dem Gedicht ein „religiöses Untergrundgeräusch“ zu und fasst den Entstehungsprozess seiner Poesie in ein berührendes Bild: „Im Anfang ist das Vermissen, und nur im Rückblick kann dieser Anfang als solcher kenntlich werden: Fehlen als das Dämmern einer kommenden Gestalt.“

Neben der Vielfalt der Blickrichtungen und Bezüge, die das Gespräch zwischen Jan-Heiner Tück und den genannten zeitgenössischen Autoren eröffnet, spannen auch Fußnoten ein Netz an Vertiefungsmöglichkeiten auf. Jan-Heiner Tücks „Feuerschlag des Himmels“ wird hinsichtlich seiner Erkenntnisqualität der Wucht seines Titels gerecht: Etwas wird hier licht und durchsichtig, nicht „schlagartig“, aber auf Wegen eines selten gründlichen und genauen Gesprächs; Sprache und Sprechen bahnen einen Pfad, der „Zwischenraum von Literatur und Religion“ wird zum Raum der Erkenntnis.

Jan-Heiner Tück (Hg.): „Feuerschlag des Himmels“. Gespräche im Zwischenraum von Literatur und Religion. Poetikdozentur Literatur und Religion. Bd. 3 Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, ISBN 978-3-451-38184-3, EUR 18,–

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