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Navi für die Seele

Ratgeberliteratur aus dem Goldenen Zeitalter: Das geistliche ABC des Francisco de Osuna liegt in neuer Übersetzung vor. Von Regina Einig
Ob das Kind mit den Entbehrungen des täglichen Lebens hadert?
Foto: Symbolbild: Reuters | Ob das Kind mit den Entbehrungen des täglichen Lebens hadert oder bereits ahnt, dass es ein Symbol für geistlichen Reichtum in der Hand hält?

Die Seele galt vor der Kommerzialisierung der Psychologie als kostbarster Besitz des Menschen. Immerhin hängt von ihrer Verfassung das ewige Leben wesentlich ab. Das literarische Werk des aus Andalusien stammenden Franziskaner Francisco de Osuna (1492–1541) zeugt von der Leidenschaft, mit der sich dieser dem Dienst an den Seelen verschrieb. Als Wegweiser zum ewigen Heil verfasste er sechs „Geistliche ABC“ mit Anleihen an den Stil der mittelalterlichen Contemptus-mundi-Literatur. In kurzen, inhaltlich aufeinander aufbauenden Traktaten durchläuft der Leser eine Gebets- und Betrachtungsschule und lernt, sein Gewissen zu erforschen. De Osunas „Drittes Geistliches ABC“ zählt zu den Klassikern des Goldenen Zeitalters. Brennholz für das Feuer des Geistes sollte es nach dem Willen des Verfassers sein. Zweifellos hat das Buch gezündet und Spiritualitätsgeschichte geschrieben. Die heilige Teresa von Ávila las es auf dem Krankenbett im Haus eines Onkels. Das „Dritte Geistliche ABC“ wurde für sie zur Schlüssellektüre, denn sie entdeckte darin das Leitmotiv ihres persönlichen Betens: die Freundschaft mit Gott. Dreihundert handschriftliche Anmerkungen in ihrem Exemplar zeugen von der intensiven Auseinandersetzung der gelehrigen Schülerin mit dem Inhalt.

Francisco de Osuna will Anfänger und Fortgeschrittene in spirituellen Fragen ermutigen und vor den Fallstricken des Teufels und ihrer eigenen Kurzsichtigkeit bewahren. Dafür setzt er auf innere Sammlung und Gebet. „Es ist wichtig, dass wir lernen, uns im Gebet Gott hinzugeben, unser Herz an ihn zu binden und während dieses Vorgangs zu schweigen.“ Ein Perspektivwechsel des Lesers in Zeiten immerwährender Betriebsam- und Erreichbarkeit – das ist die Chance dieser Lektüre. De Osuna legt den roten Faden für Entscheidungschristen vor, indem er immer wieder daran erinnert, dass die Erfüllung des göttlichen Willens das eigentliche Ziel der Nachfolge ist. Glaube bedeutet mehr als die Summe geistlicher Wohlgefühle. Mit vielen praktischen Tipps weitet er den Blick auf den Weg zur inneren Sammlung. Für de Osuna stellt sie die Königsdisziplin des geistlichen Lebens dar. Darum sieht er seine Aufgabe darin, die Ankunft des Herrn in der Seele durch innere Sammlung vorzubereiten.

Das geschieht mit Sprachkraft, Stil und pädagogischem Talent. Elegant überspielt er in Form von sprechenden Bildern zwei Kommunikationshindernisse seiner Zeit: den Analphabetismus vieler Katholiken und die noch nicht existierende psychologische und psychiatrische Terminologie. Pfarrer Heinrich Peter Brubach hat das Original in zeitgemäßes Deutsch übertragen und sprachlich geglättet. Auch wenn Vokabeln wie „Depressionen“ oder „Bildungshäuser“ in der deutschen Fassung eines 1527 erstmals edierten Textes anachronistisch wirken mögen, schlagen sie doch eine Brücke zum Verständnis. Die Übersetzung erleichtert den Lesefluss, indem sie die in der spanischen BAC-Ausgabe von 1998 in den Fußnoten angeführten Schriftstellen im Volltext dokumentiert.

Wer angesichts des mehr als fünfhundertseitigen Werks eine zähe Lektüre befürchtet, atmet nach wenigen Seiten auf. Der Leser begegnet einem guten Beichtvater, der aufrichten will und mehr anspornt als tadelt. „Jeder hat die Chance, jeden Tag ein wenig besser zu werden. Das bedeutet, seinen freien Willen im Sinn des Schöpfers anzuwenden.“ Wie könnten Vorurteile über die vermeintlich herb-asketische Strenge der Contemptus-mundi-Literatur liebenswürdiger widerlegt werden als mit de Osunas „Lob der Sanftmut“? Der Verfasser erweist sich als kluger Seelsorger. Wie jeder authentische Mystiker behandelt er geistliche Fragen ohne alle Verschrobenheit.

Viele Gedanken sind maßgeschneidert für alle, denen die Neuevangelisierung heute am Herzen liegt. Klugheit und Augenmaß gehören zu de Osunas Methode: „Wenn Menschen durch das Angebot der inneren Sammlung ihren Glauben neu entdecken, müssen sie mit besonderer Vorsicht auf die Weide der wahren Lehre geführt werden.“ Der Aufstieg der Seele zu Gott mit dem Geistlichen ABC ist jedermann zugänglich und zudem gepflastert mit gesundem Menschenverstand und nüchternen Überlegungen. Krisen und Leiden werden als Chance erkannt. „Es gibt nichts, was uns schneller zum Heil führt, als Christus, unserem Herrn und Erlöser, auch im Leiden, in der Verachtung und Armut die Treue zu halten.“

Zahlreiche Beispiele aus dem Alten und Neuen Testament geben den Aussagen ein Gesicht. Zur Lesefreude trägt auch die plastische Bildersprache de Osunas bei. An Begriffen aus der Alltagswelt veranschaulicht er nach bester franziskanischer Predigerschule Glaubensgeheimnisse: Beispiel Granatapfel: So zahlreich dessen Kerne unter der Schale sind, so vielfältig sind die geistlichen Wege innerhalb der Kirche.

Allein die exzellente Zitatauswahl aus den Schriften der Kirchenlehrer rechtfertigt den Kauf des Buchs. Von Gregor dem Großen über Augustinus, Bernhard von Clairvaux zu Richard von St. Viktor und Wilhelm von Saint-Thierry bietet die Lektüre monastische Weisheitsliteratur in konzentrierter Form. Zur Unterscheidung der Geister wählt der Autor eine glasklare Sprache. Zeitlos aktuell ist seine Distanzierung vom falschen Reformeifer jener, die mit „viel Aufwand versuchen, die geoffenbarten Lehren so zurechtzubiegen, dass sie zu ihren schlechten Gewohnheiten passen. Damit erreichen sie, dass die Lehraussagen das besagen, was sie wollen“.

Stellenweise bietet die Lektüre auch Unterhaltungswert – etwa, wenn de Osuna mit sicherem Blick wahre und falsche Gottsuche voneinander abgrenzt und pseudomystische Überspanntheit als solche entlarvt. Hier wird die Unterscheidung der Geister nahezu in Vollendung betrieben und zu zeitlos gültigen Aussagen verdichtet. „Gott außerhalb von uns zu suchen, ist ein Umweg und bedeutet in allem Verzögerung“, charakterisiert die Perspektive de Osunas. Er rechnet immer mit menschlicher Schwäche und möchte den Leser ermutigen, seine Lebenszeit für die möglichst intensive Suche zu investieren und „die leise Sprache Gottes zu hören“.

Das Buch hebt sich wohltuend ab von dem unrealistischen Menschenbild zeitgenössischer Ratgeberliteratur und banaler Wohlfühlspiritualität. Letztere spiegelt oft nur die Ansprüche der Freizeitgesellschaft und die Folgen schieren Überdrusses, während die Perspektive auf die Gnade verkürzt bleibt. Bei de Osuna lernt der Leser, dass menschliche Selbstüberschätzung der Fallstrick auf dem Weg zum geistlichen Fortschritt ist. Als habe er den Leistungs- und Fitnesskult späterer Jahrhunderte vorausgesehen, warnt er: „Die Haltung, immer gesund sein zu müssen, ist vermessen.“ Zugleich immunisiert das Geistliche ABC gegen materialistische Denkschablonen und die Irrwege der Esoterik: „Möge der Herr an der ersten Stelle deines Lebens stehen und nicht etwas, das von Menschen erdacht oder entwickelt wurde.“ Als Navi für die Seele in Zeiten stürmischen Reformeifers innerhalb der Kirche entfaltet das Buch therapeutische Wirkung: „Bevor du beginnst – eventuell aus Übereifer – in der Öffentlichkeit zu reformieren, solltest du zunächst dich selbst reformieren.“

Peter Dyckhoff:
Das geistliche ABC nach Franziskus von Osuna. Nach einer Übersetzung aus dem Spanischen von Heinrich Peter Brubach.
Herder, Freiburg, 2018, 576 Seiten, ISBN: 978-3-451-38051-8, EUR 42,-

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