Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Forum

Liebe lohnt sich

Ein Sammelband befasst sich mit dem Kernkonzept des Christentums als Fundament einer neu geordneten Ethik. Von Josef Bordat
"Die Auferstehung Christi mit der Gottesmutter und Thomas von Aquin", Fresko von Beato Angelico
Foto: IN | Die Liebe steht über allem: Der Auferstandene zeigt Maria und Thomas von Aquin seine Wunden. Fresko von Beato Angelico.

Die philosophische Ethik hat ein Problem. Sie zehrt von der Dichotomie zweier Ansätze, die beide nicht weit genug ausgreifen, weil sie den Widerspruch zwischen rationalen Gründen einer Handlung und persönlichen Motiven des Handelnden nicht auflösen. Beide Ansätze, der Deontologismus und der Konsequentialismus, bestimmen das richtige Handeln aus Prinzipien (die Verallgemeinerbarkeit der Maxime oder der Universalnutzen der Folgen von Handlungen), die den Handelnden selbst hinter ihm äußerlich bleibende Faktoren zurückstellen. Der handelnde Mensch wird in seiner Moralität somit nicht aus sich selbst heraus bestimmt, sondern durch Vorgaben, die er sich aneignen muss. Das schwächt, bei aller theoretischen Überzeugungskraft, die Motivation in der alltäglichen Handlungspraxis. Anders gesagt: Deontologismus und Konsequentialismus vergessen die Anthropologie. Auch der „dritte Weg“ einer Tugendethik, die den Charakter des Handelnden in den Blick nimmt und den Menschen als von innen her bestimmt sieht, eben von seinen Tugenden, bietet keine wirklich tragfähige Lösung, weil sie den Widerspruch von Gründen und Motiven, die „Schizophrenie moderner ethischer Theorien“ (Stocker), in einen Zirkel überführt: Tugendhaftigkeit führt zu tugendhaftem Handeln – und das ist gut, insoweit Tugenden definitionsgemäß gut sind. Damit ist nichts gewonnen, im Gegenteil: eine solche „Selbstzentriertheit“ verschärft als „Charakterkonsequentialismus“ das Problem weiter (Halbig).

Von dieser schwierigen Lage geht der Sammelband „Liebe – eine Tugend?“ aus, der im Anschluss an eine Fachtagung am Institut für Philosophie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im November 2014 entstanden ist. Herausgegeben wurde er von Winfried Rohr, Privatdozent für Philosophie an dieser Hochschule. Gesucht wird der Ausweg gerade mit einem Schüsselbegriff der theologischen Ethik, der in der normativen Ethik säkularer Philosophie obsolet zu sein schien: Liebe. Der Kern der christlichen Botschaft, in der lex nova Jesu zur Norm und bei Paulus zur wichtigsten Tugend erhoben, fällt aus dem engen Schema der gegenwärtigen Moralphilosophie heraus. Ethik beinhaltet heute – abgesehen von Variationen inmitten der breiten Strömungen deontologischer Strenge und konsequentialistischen Kalküls, allenfalls noch die Systematisierung der aus Dilemma-Experimenten gewonnenen moralischen Intuitionen oder die Dienstbarmachung evolutionstheoretischer Erkenntnisse im Zuge der Soziobiologie – aber nichts mit „Liebe“. Hier nimmt nun das Konzept eine Doppelfunktion ein: Erstens ist sie selbst eine Tugend, hat also inhaltliche Relevanz für die Moral, zweitens soll sie das methodische Dilemma auflösen und zur Basis einer stringenten Tugendethik werden. Und das alles, ohne die Genese des Begriffs zu einem Hemmnis für dessen Geltung werden zu lassen.

Das ist kein kleines Vorhaben, sondern ein großer Wurf. Er gelingt, insoweit die Beiträge sowohl zum inhaltlichen Aspekt (Liebe als Tugend) als auch zur methodischen Frage (Liebe als Basis einer Tugendethik) überzeugend herausarbeiten, dass auf die Liebe nicht verzichtet werden kann, soll innerhalb der Moraltheorie nicht die Praxis und in der Praxis nicht die Begründetheit des Handelns außer Acht gelassen werden. Mit der Liebe lassen sich die anthropologischen und moralischen Fragen bündeln und menschliche Handlungen besser erklären (und somit auch einfordern) als durch eine Fokussierung allein auf äußere Regeln oder auf innere Dispositionen. Es ist gerade das Wechselverhältnis von Tugend und Norm, das im Begriff der Liebe seinen Ursprung hat und seine Vollendung erfährt. Um dieses Potenzial freizulegen, mussten Aspekte aus zwei Richtungen zusammengeführt werden, um zu einem Verständnis von Liebe zu gelangen, das systematisch angemessen und daher theoriefähig ist, ohne seine ursprüngliche Kraft für die Moralität des Menschen (die „Sphäre des Handelnden“) einzubüßen. Diese konzeptionelle Aufarbeitung führt nicht nur zur Rehabilitierung der Liebe im ethischen Diskurs, sondern auch zu einer genaueren Sicht auf das spannungsreiche „Verhältnis von Gesetz und Tugend“, das neu gegründet wird und so „einen neuen Horizont der Sinnhaftigkeit für die Ethik eröffnen kann“, insoweit „die caritas eine sinnvolle Zusammengehörigkeit sowohl von Pflicht und Bedürfnis als auch von Normativität und Tugend erhoffen“ lässt.

Dieser „Vorstoß zur Gesundung der Ethik“ gelingt, insoweit „auf die caritas philosophisch eingegangen“ wird, „ohne offenbarungstheologisch zu argumentieren“, also ohne Philosophisches und Theologisches unzulässig zu vermengen. Dies geschieht in dem Band durch Rekurse auf die Philosophie Thomas von Aquins, aber auch auf „Denker, die die Zentralität der Liebe und ihres tugendethischen Kontextes für die Moderne aufbereiten und gleichzeitig sich der heiklen philosophischen Aufgabe bewusst sind, mit einem theologisch befrachteten Begriff zu tun zu haben“, etwa Josef Pieper oder Robert Spaemann. Auch die Differenzen unterschiedlicher tugendethischer Ansätze im Ausgang von Aristoteles (und dessen Interpretation beim Aquinaten) werden anhand der bekanntesten Aktualisierungsversuche etwa bei Martha Nußbaum und Bernhard Williams thematisiert. Sodann kommen moralphilosophische Ansätze zur Sprache, in denen die Liebe den Kerngedanken bildet, etwa bei Harry Frankfurt.

Schließlich wird der Liebesbegriff durch flankierende Konzepte näher bestimmt, wenn Christoph Halbig „Demut“ und „Großgesinntheit“ als Tugenden in den Blick nimmt und damit einen wertvollen Beitrag leistet zum Anliegen des Sammelbandes: die Bedingungen der Möglichkeit von Liebe als Tugend zu identifizieren und zu erörtern, um den alten Begriff im Kontext einer Neuordnung der Ethik fruchtbar zu machen.

Die Texte des Sammelbandes „Liebe – eine Tugend?“ sind voraussetzungsreich und daher insbesondere für fortgeschrittene Studierende der Philosophie und Theologie, für Lehrende in ethikbezogenen Disziplinen sowie Forschende mit moraltheoretischen Fragestellungen zu empfehlen. Gerade die Moraltheologie, die den Liebesbegriff zentriert, sollte von den tiefschürfenden Analysen des Bandes profitieren können.

Winfried Rohr (Hg.):
Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe.
Springer Verlag, Wiesbaden 2018, 364 Seiten, ISBN 978-3-658-17874-1, EUR 59,99

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Aristoteles Jesus Christus Josef Bordat Josef Pieper Moraltheologie Robert Spaemann Theologische Ethik Thomas von Aquin

Weitere Artikel

Unter einen Hut gebracht: Die Gebote der Kirche und das Streben nach dem Glück.
17.10.2023, 21 Uhr
Stephan Kampowski
Der Mensch muss in der Lage sein, die Wirklichkeit in ihrem Reichtum zu erkennen. Auch in Bezug auf trans-empirische Dinge wie das Glück.
14.10.2023, 21 Uhr
Stephan Herzberg

Kirche

Zu Ostern werden nur wenige Pilger erwartet. Es ist Zeit, an die Christen im Heiligen Land zu denken.
27.03.2024, 11 Uhr
Regina Einig