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Kohl und die Konservativen

Thomas Biebricher schaut auf die ausgebliebene „geistig-moralische Wende“. Von Sebastian Sasse
Bundestagswahl historisch
Foto: dpa | Auf der einen Seite Franz Josef Strauß, auf der anderen Heiner Geißler und der Integrator in der Mitte: Helmut Kohl wusste, dass die CDU alle nicht-linken Strömungen integrieren muss. Dazu gehören nicht nur Konservative.

Konservative haben meist keine Ahnung von ihrer eigenen Geschichte. Ganz anders sieht es da bei den Linken aus: Sie wissen nicht nur bestens Bescheid über die eigenen historischen Wurzeln; sie kennen auch die Vergangenheit ihrer Gegner. Denn um das übliche linke Selbstbild zu bestätigen – „Wir standen in der Geschichte stets auf der richtigen Seite.“ – braucht es eben auch ein Gegenbild, das des ewigen Konservativen, des ewigen politischen Feindes. Auch Thomas Biebricher, der in seiner Studie den Konservatismus in der Ära Kohl in der Blick nimmt, ist ein Linksliberaler. Man merkt es daran, dass er trotz aller Argumente, die er selbst dagegen anführt, davon ausgeht, Helmut Kohl habe es mit seiner „geistig-moralischen Wende“ wirklich ernst gemeint und der Bundesrepublik eine konservative Renaissance bescheren wollen.

Das wäre ja auch zu schön. Denn damit würden jene linken Kritiker sich bestätigt fühlen, die damals, vor allem im Zuge der Nachrüstungsdebatte, aber auch später in Folge von Bittburg und dem Historikerstreit, in Kohl den bösen, rechten Dunkelmann sehen wollten. Das war er aber nicht. Kohl war kein Konservativer, zumindest nicht in dem Sinne, dass er sich bewusst an die geistesgeschichtliche Tradition dieser politischen Grundausrichtung angeschlossen hätte. Er war ein Christdemokrat. Innerhalb der Union jedoch gehört er zu den Konservativen im machtpolitischen Sinn: Er setze auf das, was sich bis in die 80er Jahre in der Geschichte der Union bewährt und sie zur erfolgreichsten Partei Deutschlands, ja ganz Europas gemacht hatte: Möglichst wenig programmatische Debatte; Hauptsache, die Wirtschaft brummt. Dazu kommt ein Sensorium für die Stimmungslage der Bevölkerung. Nur so konnte für Kohl die Union bleiben, was sie von Anfang an war: die Partei, die alle nicht-linken Kräfte integriert. Dazu gehören auch die Konservativen, aber eben nicht nur.

Die Formel von der „geistig-moralischen Wende“ war auch deswegen aus Kohls Sicht eine geniale Formulierung, weil er zum Einen die Konservativen unter den eigenen Anhängern beruhigte, die auch schon damals beständig darüber maulten, marginalisiert zu werden; zum Anderen mit dieser Formel tatsächlich die Stimmungslage in der Mitte der Republik traf, wo man sich nach „heißem Terroristenherbst“ und eineinhalb Jahrzehnten sozialliberaler Technokratie wieder etwas fürs Herz wünschte. Kohl, der als Bauchpolitiker solche Stimmungswellen spürte, handelte strategisch, sicherlich nicht programmatisch.

Biebricher hingegen kommt zu der Diagnose, Kohl sei mit seinem konservativen Programm gescheitert. In Wirklichkeit wollte Kohl nie mit einem konservativen Programm Erfolg haben. Biebricher unterliegt einem typischen linken Denkfehler, der freilich ganz sympathisch ist: Fixiert auf die Bedeutung programmatisch-inhaltlicher Arbeit für die politische Praxis geht er mehr oder weniger automatisch davon aus, dass die geistigen Orientierungsdebatten, die seit Mitte der 70er Jahre die konservative Szene erlebte, sich doch auch dann in der Politik der vermeintlich konservativen Partei CDU niederschlagen müssten.

Die Debatten gab es tatsächlich. Und es ist der Verdienst der Studie, die Grundpositionen der einzelnen Stränge in der konservativen Ideenfamilie zu skizzieren, ihre Vertreter zu benennen und vor allem auch aufzuzeigen, wo die jeweiligen Gegensätze liegen. Da gibt es die technokratischen Konservativen mit ihrem Ahnherren Arnold Gehlen, die den Status quo des erfolgreichen Wirtschaftsstandortes mit technokratischer Effizienz vor auswärtiger Konkurrenz und mit robuster Ordnungs- und Sicherheitspolitik vor linken Revolutionären sichern wollen. Oder Liberal-Konservative wie Hermann Lübbe und Odo Marquard, die manches mit den Technokraten verbindet, die aber eigentlich doch Liberale geblieben sind, nur die Ideologisierung aller Lebensbereiche im Zuge von '68 satt haben. Dann gibt es intellektuelle Originale wie Armin Mohler, der nach allen Seiten hin Kontakt hält, in der Hoffnung, die notorisch zerstrittene Rechte in Deutschland zu einen. Aber das ist Mohler eben dann auch, ein Rechter, Waffen SS-Freiwilliger und Historiker der neurechten „Konservativen Revolution“, die vieles war, nur eben nicht konservativ. Denn: Alle Konservative sind zwar Rechte, aber nicht alle Rechte sind Konservative.

Alle diese Gruppen haben ihre eigenen Zirkel und Zeitschriften und versuchen seit Mitte der 70er Jahre Einfluss zu nehmen. Und es gibt auch Querverbindungen zur Union. Aber nur zu einzelnen Persönlichkeiten, nie zur Partei insgesamt. Auch Kohl bediente sich durchaus öfter bei den Konservativen: Griff Themen und Thesen auf. Aber nie mit dem Ziel, daraus ein in sich geschlossenes Programm zu formen. Kohl wusste, dass erfolgreiche Politik auf die Ambivalenz der Welt nicht mit doktrinärer Eindeutigkeit reagieren kann. Mancher würde in dieser Erkenntnis vielleicht sogar etwas typisch Konservatives sehen. Jedenfalls entspricht sie bei Kohl einer Grundhaltung, die aus dem Bauch kam und kein Ergebnis intellektueller Auseinandersetzung war. Er war ein großer Politiker.

Diese Entwicklungen stellt Biebricher ausführlich und leserfreundlich dar. Genau das macht seine Studie lesenswert, denn hier findet man den neuesten Forschungsstand zu diesem lange eher etwas vernachlässigten Bereich deutscher Parteiengeschichte gut zusammengefasst. Und trotz der falschen Schlussfolgerung, Kohl sei gescheitert, ist doch die Auseinandersetzung mit dem Problem mit Blick auf die aktuellen Richtungskämpfe in der Union sehr interessant: Wenn nun Konservative zum Sturz der Kanzlerin blasen, muss man hingucken, ob es Unions-Konservative im Kohl'schen Sinne sind oder eben doch genuin Konservative, die an eine der oben genannten Ansätze anknüpfen wollen. Gewiss, beide Gruppen eint die Gegnerschaft zu Merkel. Sollte die aber tatsächlich einmal weg sein, dürften auch die Bruchlinien zwischen diesen beiden Seiten deutlich werden.

Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Matthes & Seitz Verlag. Berlin, 320 Seiten, ISBN 978-3-957-57608-8, EUR 28,–

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