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Ist der Zölibat schuld am Missbrauch?

Ausgelebte Sexualität ist keine Garantie, dass sexuelle Übergriffe nicht oder weniger vorkommen. Von Weihbischof Marian Eleganti OSB
Es ist eine enge Tür, durch die das „Kamel“ beziehungsweise die Emotionen hindurchfinden müssen
Foto: Gemeinschaft Emmanuel | Es ist eine enge Tür, durch die das „Kamel“ beziehungsweise die Emotionen hindurchfinden müssen, um der Liebe zu Christus buchstäblich und existenziell nichts vorzuziehen.

In der aktuellen Debatte um den priesterlichen Zölibat dominiert eine säkulare Logik, die als solche nicht zum Wesen der Sache vordringen kann. In dieser Hermeneutik werden die Probleme der Kirche vor allem sozialpsychologisch und politisch analysiert. Sexueller Missbrauch ist dann „systemisch“ bedingt beziehungsweise bereits in der DNA der Kirche (Heiner Wilmer) grundgelegt, die Sünden der Kleriker also strukturell vorprogrammiert. In Wirklichkeit jedoch versagen Personen, nicht Systeme. Erstere sind für ihre Taten allein verantwortlich, denn sie hätten immer auch anders – moralisch – handeln können. Kein System, kein Umstand und kein Bedürfnis zwingt sie dazu, sexuell übergriffig zu werden, so wenig wie Diebe aufgrund eines bestimmten Ambientes, persönlicher Veranlagungen oder Charakterschwächen naturnotwendig stehlen müssen. Richtig daran ist, dass solche Faktoren bestimmte Handlungen begünstigen: Einkaufszentren und Menschenansammlungen bieten für Taschendiebe ein besseres Umfeld als einsame Waldstraßen. Das bedeutet aber nicht, dass sie stehlen müssen, und wenn sie es tun, dass die Umstände daran schuld sind.

Allerdings offenbaren Statistiken auf objektive und weltanschaulich neutrale Weise Risikogruppen. Das weiß die Polizei, das wissen die Versicherungen, und das wissen informierte Politiker. Nun aber ist es erwiesen, dass sexuelle Übergriffe in der ganzen Gesellschaft und in der Kirche in erschreckendem Ausmaß vorkommen und in der Gesellschaft mehrheitlich von nicht zölibatär lebenden Personen verübt werden. Diese Tatsache verbietet es, die Abschaffung des priesterlichen Zölibates als Lösung des Problems zu behaupten. Abgesehen davon dominieren in den kirchlichen, von Zölibatären begangenen sexuellen Übergriffen homosexuell veranlagte Täter, die zum Zölibat in einer ganz anderen Relation stehen als heterosexuell veranlagte, welche die Mehrheit der Priester ausmachen. Das lässt sich aus den Opferstatistiken stringent aufweisen. Erzbischof Scicluna sprach diesbezüglich am sogenannten Missbrauchsgipfel von einer statistischen Konstanten seit 2001, auch wenn er den Zusammenhang der mehrheitlich männlichen Opferzahlen mit der homosexuellen Neigung der übergriffigen Priester für die Interpretation offen lässt beziehungsweise leugnet.

Festzuhalten bleibt: Ausgelebte Sexualität ist keine Garantie, dass sexuelle Übergriffe nicht oder weniger vorkommen. Dagegen spricht ganz einfach die (statistisch erwiesene) Wirklichkeit. Und zweitens: Eine zölibatäre Priesterschaft mag für homosexuell veranlagte Personen ein attraktives berufliches Umfeld sein, zwingt sie aber nicht systemisch und strukturell, zu sündigen und sich an mehrheitlich 13- bis 19-jährigen männlichen Jugendlichen zu vergehen. Trotzdem weist sie die Statistik als Risikogruppe aus. Eine strukturelle Sünde gibt es nicht. Auch wird in diesem Zusammenhang immer noch eine vulgärpsychologische und überholte These Freuds von der Verdrängung des Sexualtriebs bemüht, der dann wie ein unterirdischer Vulkan unberechenbar und am falschen Ort ausbricht (vgl. Peter Beer: die angeblichen „Übersprungshandlungen“ sexuell übergriffiger Kleriker, die systemisch und strukturell bedingt seien). Eine rein soziologische Sicht des Zölibates führt dazu, in ihm nur ein Gesetz zu sehen, eine Art Systemzwang mit unlauteren Motiven (angeblich der Wahrung des kirchlichen Besitzstandes als Ursprung der Zölibatsverpflichtung). Man vermisst die Sicht des Glaubens, ohne die es kein richtiges Verstehen der Zölibatsverpflichtung für Priester gibt. Wenn der Augenarzt nur mit seinen „positivistischen“ Instrumenten in die Augen seiner Frau schaut, dann kann er ihre Liebe nicht sehen. Genauso wenig werden wir mit einer rein säkularen Logik dahinterkommen, was den Zölibat in seinem Wesen ausmacht. Karl Rahner hat schon in der frühen Nachkonzilszeit „Mystik“ angemahnt, sollte das Christentum von morgen Bestand haben. Wir sind inzwischen in der Zukunft angekommen, und Rahner hat immer noch Recht. Von Mystik aber finden wir in der Debatte keine Spur. Man könnte meinen, viele Diskursteilnehmer hätten keine Glaubenserfahrung und keine -einsicht, wo sie über Zölibat reden, nur Frustrationen und Einschränkungen. Oft beklagen ihn jene am lautesten, die ihn gar nicht leben (müssen). Auch ihnen erscheint er als Übel. Dahinter liegt die Tatsache, dass diese Existenzweise provoziert. Sie relativiert die Bedeutung ausgelebter Sexualität und weltlicher Lebensstile für das eigene Glück und die eigene Erfüllung. Warum nennt Luther die Ehe ein „weltlich Ding“? Das ist zwar eine Übertreibung, aber wahr daran ist, dass Ehe und Familie naturgemäß der Integrationsmodus in die bürgerliche Gesellschaft beziehungsweise in die Welt sind.

Deshalb wird die Ehelosigkeit im Gegensatz dazu als eschatologische Existenzweise aufgefasst: „Wenn nämlich die Menschen von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch lassen sie sich heiraten, sondern sind wie Engel im Himmel.“ (Mt 22,30 NEÜ). Der zölibatäre Priester weist über die innerweltliche Existenzweise der Ehe – bis dass der Tod sie scheidet – hinaus auf die ewige. Sie geht definitiv nicht in der Welt auf. Die Welt beargwöhnt sie entsprechend und meint nun aufgrund der Missbrauchsskandale, dies mit Recht zu tun. Verlangt werden radikale Lösungen: Nulltoleranz und Abschaffung des Zölibates als einem gescheiterten Modell für alle Priester. Vergessen wird, dass die überwältigende Mehrheit der Priester den Zölibat ohne sexuelle Übergriffe lebt. Wo liegt die Motivation dazu? In der bräutlichen Liebe zu Christus und zur Kirche. Beide nehmen den Ehelosen ganz und exklusiv in Besitz. Das stärkste Symbol dafür ist (wie in der Ehe) der Ring. Auch den Bischofsring könnte man ohne Glauben und mit rein immanenter Logik nur als Objekt der Eitelkeit (miss-)verstehen. Er ist aber ganz klar anders gedacht. Jesus hat in seiner Ausrichtung auf den Vater und das Reich Gottes nicht zufällig ehelos gelebt. Er gehörte weder einer Frau noch eigenen Kindern, die er mit ihr gezeugt hätte. Er gehörte Gott, dem VATER, und damit allen Menschen. Und die Kirche gehört ihm und Er ihr, denn sie ist Sein Leib und mit Ihm als Ihrem Haupt und Bräutigam ist sie „ein Fleisch“, ein einziger mystischer Leib, Sein Leib. Auch der zölibatäre Priester gehört Gott und der Kirche beziehungsweise allen. Auch sein Leib gehört keiner Frau. Deshalb hat er keine eigene Familie, um frei zu sein für Christus und sein Reich. In der heiligen Eucharistie wird er „ein Fleisch“ beziehungsweise „ein Leib“ mit Christus und mit allen. Das setzt seine Keuschheit voraus. Seine Bindung an Christus und die Kirche (Bistum) ist im doppelten Sinn des Worts „exklusiv“, das heißt eine ausgezeichnete und eine ausschließliche. Ausgezeichnet ist sie durch das Beispiel Jesu, der genau so und nicht anders gelebt hat: unverheiratet. Ausschließlich ist sie, weil sie die Ehe ausschließt. Der Priester ist Abbild des Priestertums Jesu, was auch Konsequenzen für die Frauenfrage hat. Letztere – Frau – ist die Symbolgestalt der Kirche, also der Braut. Die Kirche ist eine Frau. Der Priester steht am Altar dort, wo der Bräutigam, Christus, steht und in seiner Person die Einsetzungsworte spricht. Er ist ein Mann.

Der Zölibat ist kein Gesetz, er ist die innere Seite des Priestertums als exklusive, bräutliche Bindung an Christus und seine Kirche, beides bräutliche Verhältnisse also. Schon allein die Tatsache, dass der Zölibat die biografische Existenzweise Jesu war, müsste zu denken geben, bevor man ihn für die Priester, in der lateinischen Tradition verpflichtend, abschafft, weil er wie die Ehe zu jeder Zeit von Einzelnen gebrochen oder nicht geliebt wurde und immer für Kontroversen sorgen wird. Als ich in jungen Jahren eine große Verliebtheit zu überwinden hatte, um den Weg zum zölibatären Priestertum nicht zu verlassen, war mir ganz klar, dass es im Tiefsten und in erster Linie um meine Beziehung zu Christus ging und erst dann um meine Beziehung zu dieser jungen Frau. Es war eine enge Tür, durch die das „Kamel“ beziehungsweise die Emotionen (ich war wirklich sehr verliebt) hindurchfinden mussten, um der Liebe zu Christus buchstäblich und existenziell nichts vorzuziehen. Solche Momente kommen in jedem Leben, „das Liebste“ („Isaak“) Gott hinzugeben. Auch der Verheiratete kennt sie. Beides zu haben aber ging für mich nicht. Nach dieser Prüfung war ich nicht mehr der gleiche wie vorher, und schon damals habe ich gedacht: Wie kann man im Zölibat nur ein Gesetz sehen, wo er doch eine so existenzielle innere Seite hat, die einen so gewaltig herausfordert: die Liebe zu Christus, das Freisein für ihn und Sein Vorrang und Vorzug in allen Dingen bis hinein in die existenziellsten: Affektivität und Sexualität.

Dieser Verzicht bringt den Zölibatären in eine ganz andere innere Form der Beziehung und Bindung an Christus und die Kirche, wie sie der Verheiratete der Natur der Sache gemäß in ihren unterschiedlichen Lebensweisen nicht kennt. Das muss klar gesagt sein. Heilig werden müssen beide. Der Weg des einen ist nicht leichter als der des anderen, aber auch nicht schwerer. Aber es gibt eine Differenz zwischen ihnen, die in die Weise hineingreift, wie die Gottes- und Christusbeziehung gelebt wird. Sie sind nicht austauschbar und lassen sich auch nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Auch der orthodoxe, verheiratete Priester lebt sie anders als der zölibatäre. Abgesehen davon werden auch dort für das Bischofsamt wegen der Unvereinbarkeit von beidem nur Zölibatäre beziehungsweise Mönche ausgewählt. Deshalb hat die lateinische Kirche bis jetzt am Zölibat für die Priester festgehalten, und hoffentlich bleibt sie dabei.

Der Autor ist Weihbischof im Bistum Chur.

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