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Heiligkeit und ihre Zerrbilder

Fünf Thesen, die unser gängiges Bild hinterfragen. Von Johannes Hartl
Altarbild zum Beitrag Johannes Hartl
Foto: dpa

Der Typus ist weit verbreitet: der „Heilige“, der charakterlich unmöglich ist. Der Priester, der ergreifend über Gnade und Gebet spricht, doch im Zwischenmenschlichen unausstehlich ist. Die fromme Tante, die religiös übereifrig ist, jedoch Bitterkeit und Kälte ausstrahlt. Man mag das als harmlose Schrulligkeit abtun oder darauf hinweisen, dass solche Figuren eher der Vergangenheit angehören, doch das Problem ist real: Wie kann es sein, dass fromme Menschen in gewissen Bereichen überhaupt nicht christusähnlich sind? Wie sieht das christliche Ideal von der Heiligkeit aus? Es ist erfreulich, dass der Papst das zum Gegenstand eines Schreibens gemacht hat. Denn nur wenn man weiß, wohin die Reise gehen soll, weiß man, in welche Richtung man am besten losmarschiert.

Wir leben in einer Authentizitätskultur. Ob etwas wahr oder falsch, moralisch verwerflich oder an sich gut ist, wird in der Postmoderne durch den subjektiven Filter der „Authentizität“ gesehen. „Wenn es für dich so passt“, kann ich mir nicht anmaßen, es abzulehnen. Solange es authentisch ist und man dazu steht… Dass an dieser relativistischen Sicht viel widersprüchlich ist, steht außer Frage. Sie verweist jedoch auf etwas Ernstzunehmendes. Im Zeitalter der Äußerlichkeit, der Werbung und der Schönheitschirurgie wird die Frage nach dem Echten immer lauter, und auch das Gespür dafür. Dass eine noch so plausible Theorie nichts taugt, wenn sie sich nicht am konkreten Leben erweist, liegt auf der Hand. „Was du bist, schreit so laut in meinen Ohren, dass ich nicht hören kann, was du sagst“, formuliert der Bestsellerautor Stephen Covey.

Wie sieht nun christliche Heiligkeit aus? Heiligkeit ist nicht Perfektionismus: Der Versuch, alles richtig zu machen, ist dem Wunsch des Menschen geschuldet, sich selbst zu rechtfertigen. „Wer hat euch verblendet?“, fragt Paulus die Galater. „Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch die Botschaft des Glaubens empfangen?“ (Gal 3,1–3) Die Frage hat an Aktualität nichts eingebüßt. Christ sein bedeutet doch, ein guter Mensch zu sein? Dass das Evangelium eine andere Pointe hat, ist vielen unbekannt. Der Versuch des Menschen, perfekt zu sein, kann gottlos und von tieferen Egoismen getrieben sein als die offensichtliche Sünde. Christliche Heiligkeit hat mit vertrauensvollem Glauben an Jesus zu tun. Und sehr wenig damit, sich angestrengt zu bemühen, sich selbst zu perfektionieren. Heiligkeit hat mit Ganzsein zu tun: „Geh einher vor meinem Antlitz! Sei ganz!“, übersetzt Martin Buber Gottes Auftrag an Abraham in Gen 17,1 wo Luther noch „sei fromm“ übersetzte. Auch das griechische Wort, das das Evangelium für Jesu Aufruf „seid vollkommen“ (Mt 5,48) verwendet, hat mit Ganzsein zu tun, wie auch die Wortwurzel des Wortes „heilig“. Könnte es sein, dass Gott mehr Interesse an echten, ganzen, ganzheitlich liebenden Menschen hat als an besonders religiösen?

Den blinden Fleck entlarven immer andere: Der ältere Sohn im Gleichnis erkennt erst bei der Rückkehr des jüngeren, dass auch seine Beziehung zum Vater gestört ist. Dass die frommen Pharisäer mit ihrem Herzen weit von Gott entfernt lebten, wurde darin deutlich, wie sie auf die Sünder reagierten, die Jesus so liebevoll aufnahm. Wer keine Menschen um sich hat, dünkt sich schnell heiliger. Wer in der Wahrheit leben will, erlaubt Menschen um sich herum, ihn auf Fehler hinzuweisen. Das ist schmerzhaft, doch führt weiter. Heilig wird man nicht allein. Heilige sind keine guten Menschen, sondern sie erkennen im Laufe ihres Lebens nach und nach, wie sehr sie die Gnade Jesu brauchen. So schreibt der reife Apostel Paulus am Ende seines Lebens, Jesus sei für die Sünder gekommen, von denen er der erste sei (1 Tim 1,15). Die guten Menschen, die gibt es nicht. Selbst Jesus hatte wenig Interesse daran, als ein solcher bezeichnet zu werden (Lk 18,19). Was Heilige auszeichnet ist, dass sie am tiefsten verstanden haben, wie sehr sie Jesus brauchen und sich ganz von ihm erfüllen lassen. Heilige lieben, weil sie geliebt werden: Paulus schreibt, selbst das freiwillige Martyrium sei nichts wert, wenn die Liebe fehlt (1 Kor 13,3). Johannes stellt klar: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.“ (1 Joh 4,10). Wer sich so geliebt weiß, der wird auch wieder lieben. Heilig sein bedeutet ganz werden, ganz Liebende werden. Die Welt wartet auf solche Menschen.

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