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Fragmente eines Lebenswerks

Die Neuübersetzung von Passagen aus Chateaubriands Autobiographie überzeugt stilistisch, jedoch nicht konzeptionell. Von Alexander Pschera
Saint-Malo, historic walled city in Brittany, France
Foto: IN | Das Tosen der Brandung vor Saint-Malo, wo Chateaubriand aufgewachsen ist, spiegelt sein abenteuerliches Leben wider.

Die schlechte Nachricht zuerst: Der ganze Chateaubriand bleibt dem deutschen Leser weiter vorenthalten. Eine erstens vollständige und zweitens auch nur halbwegs kritische Ausgabe des Hauptwerks des französischen Romantikers François-René de Chateaubriand, der monumentalen „Memoires d'Outretombe“, gibt es nicht in deutscher Sprache. Chateaubriand begann bereits 1809, das heißt als 41-Jähriger, mit der Arbeit an seiner Autobiographie, die er 1849 fertigstellte. Das Werk erschien auszugsweise zuerst als Zeitungsfeuilleton in La Presse, der ersten großen Tageszeitung Frankreichs, und kam dann 1849 und 1850 nach dem Tod seines Autors im Jahr 1848 in zwölf Oktavbänden bei Penaud Freres auf den Markt.

Eine durch und durch katholische Prosa

Die Memoires erschließen sich in ihrer Fülle nur dann, wenn man sie in ihrer Ganzheit betrachtet. Das ist nicht anders als mit der Recherche von Proust oder mit der Kathedrale von Chartres. Bei einer Kirche bilden die Pfeiler, Säulen und Portale die Elemente, aus denen sich die Gestalt des Gotteshauses als eine neue Form und als ein eigenständiges Wesen zusammensetzen. In Werken wie den Memoires oder der Recherche ist es der epische Atem, der die literarische Wirklichkeit begründet – und zwar nicht der epische Atem im Sinne einer Handlung, einer Aneinanderreihung von Ereignissen und Episoden, sondern im Sinne der Ausdauer, die dem Leser abverlangt wird, wenn er die Gestalt dieses Lebens, das sich 40 Jahre selbst aufgezeichnet hat, verstehen will.

Wir verfügen über einen vollständig übersetzten Balzac, über alle Werke von Zola und über eine unendliche Menge an überflüssigen Texten der französischen Texte der Postmoderne. Doch das zentrale Werk des französischen 19. Jahrhunderts harrt in Deutschland weiter seiner Erschließung. Das ist zwar kein ausgemachter Skandal, aber immerhin ein großes Ärgernis. Zwar gibt es die von Sigrid von Massenbach in den sechziger Jahren unternommene Übersetzung der Memoires, die kürzlich bei Matthes & Seitz Berlin wieder aufgelegt wurde. Das Buch hat zwar fast 900 Seiten, kann sich aber nicht rühmen, eine vollständige Übersetzung zu sein. Eine kritische Edition gleich gar nicht, werden doch die zahlreichen Änderungen, die der Autor im Lauf seines späten Lebens am Text vorgenommen hat, nicht berücksichtigt.

Nun kommt also eine neue Chateaubriand-Ausgabe auf den Markt, die sich allerdings sofort als nicht repräsentativ zu erkennen gibt: „Kindheit in der Bretagne“ lautet der Titel dieses schmalen Bandes, der einen winzigen Abschnitt aus dem Riesenoeuvre herausgreift, den es so gar nicht gibt: Die Bücher 1–12 der Memoires erzählen von Herkunft, Studium, militärischer Karriere und Reisetätigkeit des Autors, die Bücher 13–18 berichten von seinen literarischen Erfolgen, die Bücher 19–34 von seiner politischen Karriere (Chateaubriand wurde unter anderem 1815 zum Staatsminister ernannt) und die Bücher 35–42 blicken nochmals auf das ganze Leben zurück und stellen Überlegungen zur Zukunft Frankreichs an. Der Titel der neuen Übersetzung ist auch nicht treffend, was den dargestellten Zeitraum angeht, denn der Text greift über das hinaus, was man mit etwas gutem Willen „Kindheit“ nennen kann.

Schlimmer jedoch als diese falsche Etikettierung, die wahrscheinlich dem Marketingkalkül des Verlages zu verdanken ist, der die Mitbringselstände der Buchhandlungen anpeilt, sind die Auslassungen, die die Übersetzung vornimmt. Es wird nicht klar, welche französische Ausgabe der Übersetzung zugrunde liegt, und so ist nicht genau nachvollziehbar, an welchen Stellen der Text gekürzt, gerafft, bearbeitet wurde. Generell fällt aber auf, das immer wieder später hinzugefügte Reflexionen des Autors, die für den Duktus der Memoires so typisch sind, unter den Tisch fallen – wahrscheinlich, um den angestrebten Charakter der „Kindheitserinnerungen“ nicht zu stören. Dieses Vorgehen ist philologisch nicht zu vertreten und vermittelt dem Leser einen falschen Eindruck von den Eigenheiten des Werkes.

Klassiker haben es schwer auf dem Buchmarkt. Wer den Leser von heute an ein Werk aus einer vergangenen Epoche und aus einer anderen Sprache heranführen will, der kann keinen anderen Weg gehen als den einer vollständigen, präzisen Übersetzung mit umfangreichem Kommentar zur Erschließung der Hintergründe und Anspielungen. Das würde man auch Chateaubriands Memoiren wünschen, gerade bei einem versierten Übersetzer wie Karl-Heinz Ott. Denn die gute Nachricht ist, dass Ott es schafft, den Rhythmus der Prosa Chateaubriands elegant ins Deutsche zu übertragen. Von ganz wenigen Unsauberkeiten abgesehen (Wortwiederholungen, unsaubere Anschlüsse, grammatikalische Stellungen), ist seine Übersetzung eine schöne Leistung, die vor allem den melancholischen Tonfall der Sätze Chateaubriands, von denen man meinen sollte, sie würden in keiner anderen Sprache als der französischen ihren so eigentümlichen Glanz ausstrahlen, sehr genau trifft. Das gleiche gilt vom beigegebenen Essay, der allerdings in puncto Christentum den Wunsch des Autors zum Vater des Gedankens macht. Denn Chateaubriand mag zwar kein fleißiger Kirchgänger gewesen sein, ihn jedoch zu einem Vorläufer der modernen Subjekttheorie zu machen, ist ein alter Hut, der der tiefen Gläubigkeit des Autors, die alles andere als ein pantheistisches Schwärmen ist, in keiner Weise gerecht wird. Vielleicht tun wir Deutsche uns deshalb so schwer mit Chateaubriand, weil er eine durch und durch katholische Prosa geschrieben hat, die die Vergänglichkeit des Lebens im Diesseits verfolgt, nur um seine Wiedergeburt im Jenseits zu feiern.

François-René Chateaubriand: Kindheit in der Bretagne. Neu übersetzt von Karl-Heinz Ott. Hoffmann und Campe Verlag 2018, 304 Seiten, ISBN-13: 978-3-45500-294-2, EUR 20,–

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