Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung

Auf den Unterschied kommt es an

Der Theologe Christoph Raedel zerpflückt Ungereimtheiten der Gendertheorie. Von Katrin Krips-Schmidt

Wie konnte es dem Gender-Mainstreaming gelingen, sich innerhalb weniger Jahre in der Bundesrepublik in der Öffentlichkeit und den öffentlichen Institutionen durchzusetzen? Wie konnte das geschehen, obwohl der allergrößte Teil der Bevölkerung dessen Ziele und Motivationen nicht gutheißt? Obwohl das Gender-Mainstreaming von einer Vorstellung der Geschlechter ausgeht, die offensichtlich nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist?

Diesen und noch vielen weiteren Fragen geht Christoph Raedel in seinem spannend zu lesenden Buch „Gender: Von Gender Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt“ kenntnisreich nach.

Raedel, Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der evangelischen Freien Theologischen Hochschule Gießen und Vater von vier Kindern, steuert Grundsätzliches bei. Er benennt Ross und Reiter, die wichtigsten Akteure sowie Verbindungen, die offenbar werden lassen, wie sich ein derart „kontraintuitives“ – von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehntes – Konstrukt wie das Gender-Mainstreaming auf allen gesellschaftlichen Ebenen etablieren konnte.

Ausgehend von den verschiedenen Geschlechtertheorien und einer seit den 1970er Jahren einsetzenden Gleichstellungspolitik zeichnet der Autor die Entwicklungslinien von der „Gleichberechtigung“ zu einer nunmehr geforderten „Gleichbehandlung“ der Geschlechter nach. In den 1990ern radikalisierte Judith Butler, eine der führenden Protagonistinnen der queer-Bewegung, den Feminismus. Ihr lebensfernes Konzept einer Überwindung der Zwei-Geschlechtlichkeit und einer radikalen Gender-Dekonstruktion ist bereits tief in die Politik und den Verwaltungsapparat sowie in die bundesdeutschen schulischen Bildungspläne vorgedrungen. Erschrecken und aufhorchen lassen müssen die mit dem Gender-Konzept verbundenen Forderungen nach „Vielfalt“, „Toleranz“ und „Akzeptanz“, wie sie in der, oftmals von schulexternen Personen, im Klassenraum betriebenen „Sexualaufklärung“ erhoben werden und zum Ausdruck kommen. Raedel blickt hinter die Kulissen der Gender-Szenerie und benennt deutlich die Zielsetzungen ihrer Protagonisten. Angestrebt wird, die Vollerwerbstätigenquote von Frauen zu steigern, die Familienarbeit vermehrt von Männern leisten und die Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr vor allem in die Hände einer staatlichen Fremdbetreuung übergehen zu lassen – kurz, anvisiert ist der radikale Umbau der Gesellschaft. Dramatisch wie instruktiv liest sich dabei der Entwicklungsprozess, wie er sich – für den EU-Bürger unmerklich in undurchsichtigen Strukturen – durch Entscheidungsfindungen sukzessive vollzog und weiterhin vollzieht: nämlich ohne parlamentarische Debatten durch gewählte Volksvertreter.

Die Frauenquote widerspricht der „Geschlechterneutralität“

Stattdessen wurde und wird die Durchsetzung des Gender-Mainstreamings in geschlossene Expertengremien verlagert und somit auf dem Verwaltungsweg umgesetzt: „Exakt diese Entwicklung ist an den geschlechterpolitischen Grundentscheidungen zu beobachten, die mittlerweile das Handeln der staatlichen Behörden auf allen Ebenen der EU-Mitgliedsstaaten bindet. Während man erwarten durfte, dass solche Entscheidungen den demokratischen Meinungsbildungsprozess und dem Wettbewerb der Überzeugungen ausgesetzt werden, ist GM tatsächlich weitgehend auf dem Verwaltungsweg durchgesetzt worden und wird von Politikern häufig schlicht damit begründet, dass man sich den Realitäten nicht verschließen dürfe“, so Raedel.

Nirgends hat sich der radikale Gender-Konstruktivismus so durchsetzen können wie an den Universitäten. Mittlerweile gibt es in der Bundesrepublik 250 Lehrstühle für Gender Studies, von denen übrigens nur zehn mit Männern besetzt sind. Die Genderforschung „möchte die Kategorie Geschlecht überwinden und lenkt doch alle Aufmerksamkeit auf die in der Gesellschaft vorgenommene Geschlechterunterscheidung, markiert also permanent, wofür die Gesellschaft blind werden soll“, kommentiert Raedel diesen Widerspruch. Die Widersprüche des Gender-Mainstreamings sind augenfällig. Was soll man davon halten, dass bei amtlichen Stellenausschreibungen ausdrücklich Frauen bevorzugt werden, wo doch laut der derzeit gängigen feministischen Auffassung die biologische Kategorie „Geschlecht“ nur etwas Konstruiertes, mithin nichts Naturgegebenes, geschweige denn von einem Schöpfer Geschaffenes ist? Eine Frauenquote setzt also eindeutig eine Unterscheidung in männlich und weiblich voraus, doch wie verträgt sich eine solche Quote mit der Entscheidung der Internetplattform Facebook, die in ihren Anmeldeformularen etwa sechzig verschiedene Geschlechter zur Auswahl parat hat? Raedel stellt die Vagheit und Schwammigkeit der Begriffe der Gender-Aktivisten bloß. Aus der Perspektive des christlichen Ethikers fragt er in der zweiten Hälfte des Buches: Wie verträgt sich das Gender-Mainstreaming mit der christlichen Werteordnung, die in der Zuordnung von Mann und Frau eine Polarität der Geschlechter erkennt? Im Zeichen einer Einschränkung der Meinungsfreiheit durch entsprechende neue Gesetze, die beispielsweise missbilligende Äußerungen über die gleichgeschlechtliche Ehe sanktionieren, stehen Christen schwere Zeiten bevor. Im letzten Kapitel gibt der Autor praktische Verhaltenshinweise für Christen in den verschiedenen Bereichen des Alltags, in denen geschlechterpolitische Entscheidungen relevant werden können.

„Gender“ ist eine wahre Fundgrube an Fakten, Zitaten und weiterführender Literatur. Zahlreiche ausführliche Fußnoten sowie eine zwanzigseitige Bibliografie bieten umfassende Orientierung und Informationen im Labyrinth der Gender-Diskussion. Raedels ausgewogene und sachliche Auseinandersetzung mit der Materie wird der Vielschichtigkeit des Themas in all seinen Aspekten mehr als gerecht.

Christoph Raedel: Gender: von Gender Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt. Brunnen Verlag 2017, 240 Seiten, ISBN-13: 978-376552-080-8, EUR 20,–

Themen & Autoren

Kirche

Die Heilsquelle der Christen betrachten: Das Kreuz steht im Mittelpunkt authentischer Kirchenreformen.
28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig