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Was ist Religion?

Man ist heute schnell bereit, bestimmte Lebensweisen als „religiös“ zu bezeichnen. Doch gewisse Kriterien sollten dafür schon erfüllt sein. Von Josef Bordat
Was ist Religion?
Foto: dpa | Yoga gehört in Europa längst zu einer im Westen weit verbreiteten Anti-Stress-Lebensführung – ohne religiöse Bedeutung?

Inhaltsverzeichnis

Diskussionen über den Glauben führen oft zu einer sehr grundsätzlichen Frage: Was ist das eigentlich – Religion? Religionswissenschaftler verweigern in der Regel eine klare Antwort auf diese Frage. Religion lasse sich eben nicht eindeutig definieren.

Bestimmte Elemente jedoch treten in den meisten Definitionen auf. Was man aber immer wieder findet ist die Feststellung, jede Religion enthalte mehr oder weniger menschliche Erfahrungen übersteigende Glaubensinhalte, verbunden mit dem Willen einer Bindung an transzendente Entitäten, eine damit einhergehende Sinnstiftung für das Leben in der Welt, im Hier und Jetzt, zudem eine Orientierungsleistung hinsichtlich der Letzten Fragen des Menschseins, einschließlich deren Verstetigung und Selbstvergewisserung in Kult und Ritus sowie einer intendierten Rückwirkung auf das menschliche Handeln und die Gesellschaft als ganze, also das Postulieren von Verbindlichkeit der eigenen Normativität über die Religionsgemeinschaft hinaus.

Die etymologische Analyse der Religion

Ist man damit schlauer geworden? Wie so oft kann eine etymologische Analyse klärend sein. Religion kommt vom Lateinischen „religio“, das heißt zunächst einerseits soviel wie „Respekt“, „korrektes Verhalten“, „Verbindlichkeit“, „Gewissenhaftigkeit“, andererseits soviel wie „Bedenken“, „Zweifel“, „Besorgnis“, „Skrupel“, bevor es dann die Bezeichnung der Römer für Kulthandlungen und Bräuche wurde, also für die „Religion“ im engeren Sinne. Religio wiederum kommt von „relegere“ („erneut lesen“, „wieder lesen“), das auf „legere“ zurückgeht („sammeln“). Der evangelische Theologe Richard Schröder betont zwei andere etymologische Ursprünge, die wahrscheinlich sind: Religion komme zum einen von „relegare“, das heißt einerseits „wegschicken“, „verbannen“, „zurückweisen“, andererseits kann es „genau beobachten“, „erwägen“, „betrachten“, „beschauen“ heißen, zum anderen von „religare“, das heißt „verbinden“, „anbinden“, „zusammenbinden“.

Verweist die erste Quelle („relegare“) auf die Religiosität und Spiritualität des Einzelnen im Gebet, in der Betrachtung, in der Meditation, der Versenkung, der Vereinzelung, so verweist die zweite Quelle („religare“) auf die Gemeinschaft mit Gott, die dabei für den Gläubigen erfahrbar wird, aber auch auf die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander, auf ihr Miteinander in der Gemeinde. Zudem stehen der religiöse Mensch und die Gemeinde in der Gesellschaft und sind mit ihr verbunden. Also: Die Glaubensentscheidung ist ein höchstpersönlicher Akt und die Spiritualität ein sehr persönlicher Ausdruck des Glaubensvollzugs. Die damit verbundene Religion, persönlich begründet, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen privater und öffentlicher Bedeutung.

Der religiöse Glaube des Christen

Der religiöse Glaube des Christen strebt nach einer Religiosität, die eine öffentliche Rolle bewusst annimmt und dabei gerade auch auf die Unterstützung seitens der Kirche baut, ohne sich abhängig zu machen von politischen, juridischen oder ökonomischen Agenden.

"christliche Abendland"
Foto: Nicolas Armer (dpa)

Sie strebt ferner nach einer Religiosität, die zugleich eine Kraft im privaten Umfeld (Familie, Hauskreis, Kirchengemeinde) entfaltet, also in einem tiefen und reichen Glauben, mit rituellen Handlungen und Gebeten, die von einem lebendigen Vertrauen auf den himmlischen Vater zeugen, dessen Kind der gläubige Christ sein darf. Gegenstand dieses persönlichen Glaubens mit seiner privaten und seiner öffentlichen Wirkung als Religion ist Gott, genauer: der Gott der Bibel. Von Gott macht sich der Mensch seine Vorstellung – Gottesbilder entstehen.

Religiöser Glaube ist ein Glaube, der sich religiös eingebettet weiß, also Ausdruck in einer Religiosität findet, die direkt mit Wesen und Lehre einer Religion in Verbindung steht, einer Religion, die den Glauben durch gemeinschaftlich geteilte Offenbarung und einsichtige Deutung formt und nährt, ihn aufrichtet und stärkt, etwa durch Institutionen wie die Kirche und ihre wichtigsten Einrichtungen, die Sakramente.

„Religionsloser Glaube“ 

Davon abzugrenzen ist einerseits ein „religionsloser Glaube“, der sich – sehr modern – in Glaubensformen zeigt, die fernöstliche Philosophie oder Weltanschauung (Vedanta, Buddha, Yoga) und Spiritualitätspraktiken (Meditation) aufnehmen und mit modernen psychohygienischen, medizinischen, nutritiven, ökologischen und anderen Komponenten eines „guten Lebens“ zu einer „Patchwork-Religiosität“ verbinden, die in ihrer synkretistischen Genese und ihrer schier beliebigen Varianz an Inhalten eigentlich gar keine „Religiosität“ ist, sondern ein ganz persönlicher Glaube an die gelungene Lebensführung.

Oft wird dieser subjektivistische Glaube, der in der Welt gestresster Großstädter gerade wegen seiner individualistischen Ausbildungsformen eine enorme Anziehungskraft besitzt, mit der Spiritualität der Mystik verwechselt, weil er sich gerne auf Meister Eckhart oder Ansätze aus dem Zen-Buddhismus beruft. Die Ernsthaftigkeit christlicher Kontemplationsmystik gerade hinsichtlich der gesuchten Gottesbeziehung wird dabei jedoch zumeist unterschätzt. „Mystik“ erschöpfte sich ja niemals darin, die Kirche zu ärgern. Manches Antiklerikale entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als theologisches Missverständnis. Auch Rahners berühmtes Diktum von der Zukunft des Christentums in der Mystik ist kein Aufruf zur Revolution in der Kirche, sondern in den Herzen.

Für das wesentlich durch religio und communio mit Gott und dem Nächsten bestimmte Christentum kommt „religionsloser Glauben“ eigentlich auch gar nicht in Frage, ist aber dennoch bei Dietrich Bonhoeffer an einigen Stellen spürbar und auch unter (jungen) Christen weit verbreitet („Gott: Ja! – Kirche: Nein!“). Aus Sicht des christlichen Glaubens katholischer Prägung ist das der falsche Weg.

Die „glaubenslose Religion“

Genauso falsch ist andererseits eine „glaubenslose Religion“, die sich als Funktionssystem der Gesellschaft mit der Rolle einer Sinnstifterin für andere Funktionssysteme (Politik, Recht, Wirtschaft) begnügt. Dabei besteht nämlich die Gefahr, dass sie – einmal ihrer originären Kompetenz beraubt, nämlich Antworten auf Glaubensfragen zu geben – ganz vom zu stützenden System aufgenommen wird. Darin erfüllt die Religion dann nur noch einen billigen Zweck: als bloße Kulturkosmetik politische, juridische und ökonomische Prozesse moralisch aufzuwerten und sie damit bei den Menschen akzeptabler zu machen. Oder aber zu einem Ordnungsprinzip zu werden, mit dem Politik, Recht, Wirtschaft der Religion strikt untergeordnet werden. Während wir im europäischen Christentum jene Tendenz erkennen können, besteht im Islam gerade diese Gefahr.

Religion muss also auf zwei potenzielle Gefahrenquellen vorbereitet sein und reagieren können: auf die Gefahr einer Banalisierung durch private Beliebigkeit (hier ist der Einzelne gefragt) und auf die Gefahr einer Instrumentalisierung durch öffentliche Vereinnahmung, entweder in Richtung Folklore oder in Richtung Ideologie (hier ist die Gemeinschaft gefragt). Religion ist weder rein privat, noch rein öffentlich, Religion ist beides, weil Religiosität persönlich ist und die religiöse Person sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum lebt und wirkt.

Die Abgrenzung des Religionsbegriffs nach außen

Mehr noch als nach innen (hin zur Religiosität) muss der Religionsbegriff nach außen abgegrenzt werden, um substanziell sinnvoll zu sein. Um eine Haltung auch in der Praxis als religiöse Haltung, als Religion erkennen und anerkennen zu können, braucht es neben den abstrakten Kriterien der Definition auch ganz konkrete Anhaltspunkte, was eine Religion auszeichnet.

Die Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins ergänzte im Rahmen einer Podiumsdiskussion zur Religionsfreiheit auf dem Katholikentag 2016 in Leipzig zu den Aspekten Weltdeutungsangebot und Transzendenzbezug noch pragmatische Elemente der Dauerhaftigkeit, Tradition und Größe beziehungsweise Ausbreitung, man könnte auch sagen: Relevanz. Das ist neuen Religionen gegenüber nicht ganz fair, denn Existenzdauer ist nichts, dass Aussagen über die zukünftige Entwicklung möglich macht, ganz abgesehen davon, dass man von etwas Neuem nicht Tradition und Etabliertheit verlangen kann. Das Christentum begann seinen globalen Siegeszug auch mit einer kleinen Gruppe Männer im Nahen Osten. Heute gehört dem Christentum jeder dritte Mensch an.

Ernsthaftigkeit als untrügliches Anzeichen religiösen Glaubens

Ernsthaftigkeit hingegen ist ein untrügliches Anzeichen religiösen Glaubens und ein entscheidendes Erkennungsmerkmal von Religionsgemeinschaften. Der areligiöse Publizist Jan Philipp Reemtsma bringt es auf den Punkt, wenn er meint, er achte Frömmigkeit und Religiosität nicht wegen ihrer selbst, sondern allein aus „Respekt vor einem gewissen Ernst“, der damit verbunden ist. Hier ergeben sich Abgrenzungsmöglichkeiten zu neuen Formen von Pseudoreligiosität sowie Spaß- und Satire-„Religionen“. Für Angehörige von Spaß- und Satire-„Religionen“, die einerseits ihren „Glauben“ selbst nicht ernst nehmen, insoweit er als Parodie gemeint ist, dafür aber andererseits den Religionsstatus erhalten wollen – oft genug beschäftigen sie mit diesem Vorhaben die Behörden und die Gerichtsbarkeit – geht es wohl in erster Linie darum, unter Beweis stellen zu wollen, wie beliebig der Gegenstand des Religiösen sei, also der Glaube. Ganz nebenbei zielt die angestrebte Gleichbehandlung der eigenen „Religion“ mit bestehenden Religionsgemeinschaften auf eine (zumindest relative) Verschlechterung des Verhältnisses von Staat und Kirche, an deren angeblicher „Privilegisierung“ man offenbar gerne etwas Anteil hätte (ohne freilich die Absicht zu haben, entsprechende kulturelle und soziale Leistungen zu erbringen).

Opferbereitschaft als Praxistest für Ernsthaftigkeit

Ein Praxistext für Ernsthaftigkeit ist Opferbereitschaft, insbesondere im Zusammenhang mit dem Verhalten des Einzelnen, aber auch der ganzen Religionsgemeinschaft unter Verfolgungsdruck. Die Gretchenfrage lautet also: Wie hältst Du es mit Deiner Religion – wenn Du wegen Deines Glaubens verfolgt wirst? Ich wünsche Niemandem Verfolgung, nur zeigte sich dann am deutlichsten, ob eine Spaß-„Religion“ Anerkennung als Religion verdient oder nicht. An die Anhängerschaft des „Pastafarianismus“, des „Last Thursdayism“ oder des „unsichtbaren rosafarbenen Einhorns“ muss also in diesem Sinne eine Anregung zur Selbstreflexion gerichtet werden, wenn mal wieder auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft geklagt wird. Anerkennung von Religion in einer säkularen Gesellschaft geht über Ernsthaftigkeit, anders ist sie nicht zu ermöglichen, wenn der Staat selbst weltanschaulich neutral sein und bleiben soll.

Es ist die Frage, ob diejenigen, die mit so viel Selbstbewusstsein das Christentum und die Kirche persiflieren, ihren „Glauben“ auch dann noch so offensiv leben würden, drohte ihnen etwa der Verlust des Arbeitsplatzes (oder die Streichung staatlicher Transferleistungen). Diejenigen, über die sie sich in ihrer nassforschen Art so beherzt lustig machen, können unterdessen ein Lied davon singen, was es heißt, verfolgt zu werden und standhaft zu bleiben. Christen stehen von Anfang an in Verfolgung. In den ersten dreihundert Jahren verloren Christen überall in der ganzen damals bekannten Welt mehr als nur ihren Arbeitsplatz. Für viele Millionen Christen in einigen Teilen der Welt ist Verfolgung auch heute das tägliche Brot. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist auch für sie bei weitem nicht das Schlimmste, das ihnen droht – in Nordkorea und Syrien, Saudi-Arabien und Vietnam. Doch sie bleiben ihrem Glauben treu. Gerade aus dieser Treue gewinnen sie und andere Christen eine tiefe Freude. Freude wiederum ist etwas anderes als Spaß.

Zur Ausgangsfrage: Was ist Religion?

Zurück zur Ausgangsfrage: Was ist Religion? Eindeutige Bestimmungen sind wohl wirklich schwierig bis unmöglich. Um jedoch im Einzelfall eine begründete Entscheidung treffen zu können, sollte man die abstrakten Aspekte religionswissenschaftlicher Definitionen um das konkrete Kriterium der Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft ergänzen, um ganz sicher zu sein, dass es sich bei einer Lebensorientierung, die über das irdische Hier und Jetzt hinausgeht oder hinauszugehen vorgibt, tatsächlich um eine Religion handelt. Gerade neue Bewegungen – die keine Tradition und nennenswerte Verbreitung aufweisen (können) – müssen sich dieser Frage selbstkritisch stellen: Wenn wir verfolgt werden – machen wir weiter? Oder hört der Spaß dann auf?

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