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Unter lauter Ideologen

Wasser auf die Mühlen der Politikverdrossenen: Bei einer Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Abtreibungsstatistik suchen alle im Düsseldorfer Landtag vertretenen Parteien das Thema für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Von Stefan Rehder
Landtag Düsseldorf
Foto: Henning Kaiser (dpa) | ARCHIV - 26.09.2018, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen: Dort konferieren 150 Experten über das künftige Haus der Geschichte des Landes.

Am 27. März kurz nach 12 Uhr steht im Düsseldorfer Landtag der Verlierer fest: der Lebensschutz. Ziemlich genau eine Stunde lang hatte zuvor der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales im Raum E 3 D O1 eine Öffentliche Anhörung zu einem Antrag der AfD-Fraktion veranstaltet, bei der sich keine Fraktion mit Ruhm bekleckerte. Einzige Ausnahme: die Ausschussvorsitzende Heike Gebhard. Ruhig, sachlich, zügig und unparteiisch führt die 65-jährige SPD-Politikerin durch die Anhörung. Da alle geladenen Sachverständigen schriftliche Stellungnahmen eingereicht hätten und sich die Ausschussmitglieder am Nachmittag zu einer weiteren Sitzung träfen, will die Diplom-Mathematikerin auf Eingangsstatements der Experten verzichten und sogleich die erste Fragerunde eröffnen. Einwände dagegen, so zu verfahren, erhebt niemand.

Gedacht sind Öffentliche Anhörungen als Instrument, das es Fachpolitikern ermöglichen soll, sich bei besonders komplizierten oder politisch umstrittenen Sachverhalten eine dezidierte Meinung zu bilden. In der Praxis wird das Instrument jedoch nicht selten missbraucht. Da benennen die Fraktionen Sachverständige, von denen sie sich die wissenschaftliche Untermauerung der eigenen Position erhoffen. Auch die Fragen, die sie an sie richten, verfolgen dann nur selten einmal den Zweck, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Stattdessen werden den Sachverständigen Steilvorlagen präsentiert, hoffend, dass diese möglichst viele davon verwandeln.

Die AfD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag hat den Osnabrücker Sozialwissenschaftler Manfred Spieker als Sachverständigen aufgeboten. Er soll zu dem Antrag, den die AfD mit „Geschönte Statistiken oder Steuergeldverschwendung? Wie hoch ist die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche und deren finanzielle Auswirkungen auf das Land NRW tatsächlich?“ überschrieb, Stellung beziehen. Das ist eine kluge Idee. Denn außer den Statistikern selbst gibt es in Deutschland niemanden, der sich besser in der Materie auskennt, als Spieker.

Nein, geschönt sei die Abtreibungsstatistik des Statistischen Bundesamtes nicht. Im Gegenteil, das Statistische Bundesamt habe sich wiederholt bemüht, die Statistik zu verbessern. Indes bleibe sie „chronisch defizitär“. Aus Gründen, welche die Wiesbadener Behörde nicht zu verantworten habe. Während Spieker diese erläutert, unterhalten sich die Ausschussmitglieder der CDU-Fraktion, die ihrerseits mit Astrid Linnemann, die „Donum Vitae“-Geschäftsführerin des hiesigen Landesverbandes als Sachverständige ins Rennen geschickt haben, demonstrativ und ausgiebig miteinander. Was der von der AfD benannte Sachverständige zu sagen hat, interessiert die Christdemokraten offenbar nicht.

Dabei hätten sie hier tatsächlich eine Menge dazu lernen können. Etwa, dass es die Landesärztekammern seien, die dem Statistischen Bundesamt die Anschriften der Ärzte und Krankenhäuser übermitteln müssten, die Abtreibungen vornähmen, damit die Wiesbadener Behörde ihnen den Erhebungsbogen zuschicken könne. Nur kämen der Pflicht nicht alle Landesärztekammern immer nach. Ferner enthalte die Statistik weder die Abtreibungen, die Deutsche im Ausland vornehmen ließen, noch solche, die von Ärzten unter anderen Ziffern abgerechnet würden.

Der AfD geht es vornehmlich jedoch um einen anderen Umstand: Wie es in ihrem Antrag heißt, habe das Land 2015 „die Kosten für 22 915 Schwangerschaftsabbrüche übernommen“. 2016 seien es 21 658 gewesen. Das zum Skandal aufgeblasene Problem dabei: Die Abtreibungsstatistik des Statistischen Bundesamtes weist jedoch für NRW „nur“ 20 783 gemeldete Abtreibungen in 2015 und 21 041 in 2016 aus. Ergo habe die Krankenkassen sich von dem Land 2015 2 132 und 2016 617 Abtreibungen mehr erstatten lassen, als dem Wiesbadener Amt gemeldet wurden.

Ein Umstand, der natürlich mit unrechten Dingen zugehen kann, aber eben auch nicht muss und für den es sogar eine einfache Erklärung gibt. Denn die Gesetzlichen Krankenkassen haben bis zu vier Jahren Zeit, um sich die von ihnen übernommenen Kosten für Abtreibungen, die nach der Beratungsregelung erfolgen, aus den jeweiligen Länderhaushalten erstatten zu lassen.

Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich die Tatsache, dass die Solidargemeinschaft der Steuerzahler durch die im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelte Kostenerstattung gezwungen wird, die Kosten für „rechtswidrige“ Taten zu übernehmen, die der Gesetzgeber lediglich unter bestimmten Bedingungen „straffrei“ gestellt hat. Ein echter Skandal, der allerdings in die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers fällt, und um den die AfD bisher im Bundestag genauso wie alle anderen Parteien einen Bogen macht.

In NRW fällt die Alternative für Deutschland stattdessen vor allem mit groben handwerklichen Schnitzern auf. So heißt es etwa in ihrem Antrag, Schwangere hätten Anspruch auf die Übernahme der Kosten einer Abtreibung, wenn ihre persönlichen Einkünfte 1 001 Euro nicht überstiegen. In Wirklichkeit liegt der Satz, wie Spieker bei der Anhörung klarstellte, inzwischen bei 1 179 Euro. Und gravierender: Der AfD-Antrag weist NRW als „traurigen Spritzenreiter“ bei den „medizinisch induzierten Aborten“ aus, was nur dann stimmt, wenn man allein die absoluten Zahlen betrachtet. Da NRW aber zugleich das bevölkerungsreichste Bundesland ist, weisen – relativ gesehen – ganze zehn Bundesländer höhere Abtreibungsquoten je 10 000 Frauen auf als NRW. Während etwa in Berlin – dem eigentlichen Spitzenreiter – auf 10 000 Frauen im gebärfähigen Alter ganze 107 Abtreibungen kommen – in Bremen sind es 99 und in Mecklenburg-Vorpommern 95 – sind es in NRW mit 55 „nur“ rund halb so viele.

Ein „Fehler“, auf dem die Sachverständigen der anderen Parteien denn auch genüsslich herumritten. Wobei ihr Umgang mit der Wahrheit nicht minder interessengeleitet zu sein schien. Den größten Bären suchte die Arbeiterwohlfahrt (AWO) den Abgeordneten aufzubinden. So behauptete die AWO in ihrer schriftlich eingereichten Stellungnahme allen Ernstes, es gebe ein universelles Recht auf Schwangerschaftsabbruch, das im Internationalen Recht längst verbrieft und daher aus Sicht der AWO auch nicht verhandelbar sei. Etwas weniger vollmundig, in der Sache aber in dieselbe Kerbe zielend, positionierte sich auch der nordrhein-westfälische Landesverband von Pro Familia. Pure Desinformationen, die der Sozialwissenschaftler Spieker in der Anhörung ruhig und sachlich richtig zu stellen verstand. Jedenfalls für die, die da noch bereit waren, ihm aufmerksam zuzuhören.

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