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Mein Tagesposting: Meine russischen Lektionen

Von Alexander Pschera
Foto: dpa |

Eine Einladung meines russischen Verlages Ad Marginem führte mich eine Woche nach Moskau, Kazan und Ekaterinburg. Ich stellte dort die russische Ausgabe des „Internets der Tiere“ vor. Doch angesichts der starken Eindrücke dieser Reise trat die Theorie des Internets schnell in den Hintergrund. Die russische Wirklichkeit öffnete mir die Augen für die Missstände in meinem eigenen Land und in Europa.

Erste Lektion: Der russische Staat tut alles dafür, um seine Bürger vor terroristischen Attacken zu schützen. An jedem Metro-Eingang und vor jedem öffentlichen Gebäude stehen Sicherheitsschleusen. Bevor man die Eingangshalle eines Flughafens betritt, muss man sich einer Kontrolle unterziehen, die gewissenhaft durchgeführt wird. Der öffentliche Raum wird effizient sekurisiert. Und das ist gut so. Denn seit Manchester wissen wir, dass Terroristen ihre Attacken in jene schwach geschützten Zonen vor den Hauptgebäuden verlegen. Das Laissez-faire hierzulande mutet im Vergleich zur russischen Pragmatik wie eine bodenlose Fahrlässigkeit, ja wie zynische Tatenlosigkeit an. Zweite Lektion: Das russische Volk hat einen ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl und Disziplin. Auf den Straßen findet man keine Zigarettenkippen. In den Verkehrsmitteln und an der Theaterkasse wird nicht gedrängelt. Altes Mobiliar wird instand gehalten. Die Verkleidungen der Metro-Rolltreppen stammen sicherlich aus den 50er-Jahren, aber alles glänzt wie am ersten Tag. Keine Spur von hedonistischer Wegwerfmentalität. Wenn das ein Ergebnis sowjetischer Erziehung ist, dann lobe ich mir die sowjetische Erziehung. Dritte Lektion: Allenthalben herrscht eine große Ernsthaftigkeit, eine Würde des Denkens, ob man nun mit sogenannten Intellektuellen oder einfachen Passanten spricht. Das gilt für banale Alltagsdinge ebenso wie für die Kultur. Die Journalisten, die mich interviewten, hatten sich hervorragend auf die Gespräche vorbereitet. Sie hatten mein Buch studiert und durchdacht. Kein Vergleich mit so manchem deutschen Medienvertreter, der lässig ein paar Fragen improvisiert, um dann nichts als Plattitüden zu schreiben. Vierte Lektion: Toleranz. Absenz von Denkverboten. Meinungsfreiheit. Die Russen sind bereit, jedes Argument anzuhören, und sie geben sich die Mühe, es gegebenfalls dialektisch zu widerlegen. Das dialektische Denken hat den Vorteil, eine Synthese anzustreben. Das hat Deutschland verlernt, wo Diskussionen sofort in emotionalen Eruptionen enden, weil jeder auf der Absolutheit seiner eigenen Meinung besteht.

Fünfte Lektion: Kultur ist in Russland Volkssport. Die Theater sind voll. Und sie sind zugänglich. Man geht an die Abendkasse und kauft sich eine bezahlbare Karte. Nicht wie bei uns, wo man sich Wochen im Voraus für einen halbwegs erschwinglichen Platz bemühen muss. In Russland sieht man allerdings auch kein krudes Regietheater überbezahlter (und die Preise in die Höhe treibender) Größenwahnsinniger, sondern handwerklich solide, saubere Darbietungen der Originaltexte. Sechste Lektion: die Präsenz des Heiligen. Der Besuch orthodoxer Kirchen ist das einzige Antidot gegen die grassierende Lutheranisierung hierzulande. Das ist der umgekehrte Blick Pavel Florenskijs: Die Ikonen kommen aus dem Jenseits und nehmen einen dorthin mit, während wir alles daran setzen, die Reste des Heiligen, die uns geblieben sind, in den Dreck des Alltags zu ziehen.

 
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25.04.2024, 11 Uhr
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