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Nikolai Gogol - Liturgie voll göttlicher Wahrheit

Wie der russische Schriftsteller Nikolai Gogol um seinen Glauben rang. Von Barbara Wenz
Nikolai Gogol,  russischer Schriftsteller
Foto: dpa

Nikolai Gogol, geboren 1809 im damaligen Gouvernement Poltawa in der heutigen Ukraine als Sohn eines begabten Schauspielers und Dramatikers, ist nicht der erste Name, der bei dem Gedanken an christliche russische Schriftsteller in den Sinn kommt – Tolstoi, Dostojewski und Solschenizyn begeistern durch die breit angelegten Schilderungen ihrer Werke, die psychologische Durchdringung ihrer Charaktere, die sie erschufen, oder auch die dokumentarische Kraft, wie bei letzterem, bei gleichzeitigem unbedingten Glauben an die Ewigkeit der menschlichen Seele.

Gogol ist vielen deutschen Lesern vor allem durch seine grotesk-surrealistischen Satiren wie „Die Nase“ oder „Der Mantel“ bekannt, Komödien wie „Der Revisor“; darüber hinaus besonders auch durch sein gesellschaftskritisches, hoch komisches Meisterstück „Die Toten Seelen“, das 1842 veröffentlicht und ursprünglich als Trilogie geplant war, aber leider ein Fragment geblieben ist, weil der Autor den zweiten Teil seines Romans wenige Tage vor seinem Tod am 4. März 1852 verbrannte. Weniger bekannt, vielleicht wegen des leicht spröde klingenden Titels, ist seine Novellensammlung und Erstling „Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka“, worin sich hauptsächlich romantische Schauergeschichten in der Art typischer Volkserzählungen voller schwarzäugiger Kosakinnen und schwarzbrauiger Kosaken finden, mit beeindruckend schönen Naturbeschreibungen, originellen Typen mit deftig-praller Sprache. Da wird verwünscht, gesegnet, Gott angerufen, der Teufel verflucht, gesungen, gescherzt, gesoffen und herzhaft auf Hexen und Katholiken geschimpft. Es ist das Erbe seiner Kindheit in einer Familie, die stark naturverbunden auf der kleinrussischen Scholle lebte und in der man sich mit Volksliedern, Märchen, Singspielen und Tänzen zu unterhalten pflegte; Gogol erzählte dabei so szenisch, dass sich diese Geschichten vor dem heutigen Leser zum Teil wie Filme abrollen – man erkennt deutlich den Einfluss der häufigen Theaterbesuche in seiner Jugend mit dem Vater, den der junge Gogol im Alter von 16 Jahren verlor.

Die Mutter wiederum nahm ihn mit zu den orthodoxen Gottesdiensten – der Göttlichen Liturgie, dem zutiefst heiligen Drama, über das er später Betrachtungen schrieb –, hielt mit ihm die Fastenzeiten ein und führte den kränklichen Sohn in die Grundlagen des Christentums ein, so dass sich der gesamte Kosmos des späteren Schriftstellers auf diesen Kindheitserfahrungen aufbaut. Nach dem Abschluss des Lyzeums ging er nach Petersburg, um dort „Russland zu dienen“ – seiner Ansicht nach könnte er das am Besten tun, wenn er sich dem Jurastudium widmen würde, um hernach sich in den Dienst der Gerechtigkeit stellen zu können. Letztlich scheiterte dieser Vorsatz und er verdingte sich als Privatlehrer. Die Sammlung „Abende auf dem Vorwerk von Dikanka“ erschien 1831 und machte den Zweiundzwanzigjährigen zu einem zunächst beliebten und geliebten Dichter, dem es vergönnt war, das große, heute noch hochverehrte Genie Aleksander Puschkin kennenzulernen, der ihn beeinflusste und förderte: Hier lernt er das hohe Ideal des Schönen und Guten, das Puschkin vertrat, kennen und schätzen, auf seine Anregung hin entstanden sowohl „Der Revisor“ wie auch die „Toten Seelen“. Als sein Vorbild 1837 stirbt, notiert Gogol, dass sein Leben, seine ganze Freude mit ihm gestorben sei.

Der religiöse Aspekt seines Lebens und Werkes wurde sehr lange ignoriert. Lediglich, wenn sein tragischer, viel zu früher Tod zur Sprache kommt, finden sich zumeist Anmerkungen zu einem obsessiv gewordenen rückwärtsgewandten religiösen Eifer – was kaum verwundert, wenn man bedenkt, dass Gogol sich leiblich dermaßen kasteit hatte, dass er verhungerte. Dies ist umso bemerkenswerter, als liebevolle, plastisch-detaillierte Schilderungen köstlicher russischer Speisen die meisten seiner Werke wie eine Leitmelodie durchziehen und ihrerseits Thema literarischer und wissenschaftlicher Arbeiten geworden sind.

„Ich bitte ergebenst, zuzugreifen“, sagte die Hausfrau. „Tschitschikow blickte sich um und sah erst jetzt, dass inzwischen aufgetragen und der ganze Tisch schon mit Schüsseln mit eingemachten Pilzen, Spiegeleiern, Butterteigpiroggen, Pfannkuchen und kleinen, mit Mohn, Zwiebeln, Quark, Fischchen und anderen Zutaten gefüllten Pasteten bedeckt war. ,Butterteigpiroggen mit Ei!‘, sagte die Hausfrau einladend. Tschitschikow machte sich an die Butterteigpiroggen, konnte sie nicht genug loben und verzehrte sogleich mehr als die Hälfte des ganzen Gebäcks... Und jetzt vielleicht Pfannkuchen?“, nötigte ihn die Hausfrau weiter.

Gogol scheiterte mit seiner Poetik und Askese

Als Antwort auf diese Frage rollte Tschitschikow gleich drei Pfannkuchen auf einmal zusammen, tauchte sie in geschmolzene Butter, schob sie in den Mund und wischte sich Lippen und Hände mit der Serviette ab.“ (Tote Seelen)

Im Nachfolgeband zu dem Publikumserfolg „Abende auf dem Vorwerk“ findet sich auch die Erzählung Gutsbesitzer aus alter Zeit mit wunderbar sinnlichen skurrilen Passagen: „Unter dem Apfelbaum brannte ständig ein Feuer, und fast nie wurde der Kessel oder der kupferne Tiegel mit Eingemachtem, Gelee und Fruchtmark, eingekocht mit Honig, mit Zucker und ich weiß nicht womit sonst noch, heruntergenommen. Unter einem anderen Baum brannte der Kutscher ewig in einem kupfernen Topf Schnaps mit Pfirsichblättern, mit Faulbaumblüten, mit Tausendgüldenkraut und mit Weichselkernen und war am Ende des Prozesses überhaupt nicht mehr imstande, die Zunge zu bewegen, und schwätzte einen Unsinn daher, dass Pulcherija Iwanowna kein Wort verstand, und ging in die Küche und legte sich schlafen.“

Gerade durch sein Dürsten nach dem Ideal des Schönen, seinen Ästhetizismus – er liebte Rom und besuchte es als seinen „Altar der Schönheit“ – wurde die Religiosität in seiner zerrissenen Seele noch stärker befördert, und je mehr er sich der Orthodoxie als seinem Rettungsanker zuwandte, desto schlimmer wurden seine Psychosen. Zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, kurz nachdem seine „Toten Seelen“ publiziert worden waren, bemerkten Nahestehende, dass er auch vermehrt orthodoxe Schriften zu studieren begann, die Wüstenväter, die Philokalie der Mönchsväter, den heiligen Dimitri von Rostow, aber auch westliche spirituelle Juwelen wie etwa die Nachfolge Christi von Thomas von Kempen. Während seines Aufenthaltes in Paris – Gogol besuchte gerne westeuropäische Kulturzentren – ließ er sich massenhaft Literatur in russischer Sprache schicken und intensivierte seinen Kirchgang, seine asketischen Übungen und sein Gebetsleben. Was eigentlich heilsam auf seine psychotische Seele hätte wirken können, verstärkte seine innere Zerrissenheit nur noch mehr: bestimmte Formen von Obsessionen – zum Beispiel, er müsse jetzt ein Heiliger werden, um der Schönheit und Wahrheit der Kunst gerecht werden zu können, was wieder die skrupulösen Züge seines Charakters unermesslich potenzierte, seine Fetischtugend Demut, die er in seinem doch eigentlich spirituellen Hochmut ins Gegenteil verkehrte, was ihm freilich selbst bewusst war, wurde somit eher zur Zwanghaftigkeit als zur echten, christlich gelebten Freiheit. Doch in dieser Zeit entstehen auch seine „Betrachtungen über die Göttliche Liturgie“, die lange Zeit in keiner der maßgeblichen vollständigen Werksausgaben zu finden war, dafür ins Deutsche von der Catholica Unio 1989 dankenswerterweise übersetzt und im Verlag „Der christliche Osten“ publiziert worden ist.

Gogols tiefe Religiosität und seine Hingabe an die russisch-orthodoxe Kirche und ihren Klerus sorgten in den damaligen Intellektuellenkreisen, in denen er sich bewegte, für einen unerhörten Skandal. Als Antwort auf sein Bekenntnis, das er 1847 in Form einer Kurzschriften- und Briefsammlung veröffentlichte – und in dem er auch ankündigte, eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zu unternehmen, was ihm nach sehr schwerer Krankheit aber erst im März 1848 gelang – schrieb der Literaturkritiker und Philosoph Wissarion Belinski einen flammenden offenen Brief im Namen der Aufklärung, des Fortschritts der Zivilisation und der Menschlichkeit.

Das Schreiben machte schnell die Runde – übrigens wurde Gogols jüngerer Literatenkollege Fjodor Dostojewski wegen öffentlichen Verlesens dieses Textes, insbesondere aber wegen „Kontakten zu revolutionären Gruppierungen“ verhaftet und einer Scheinhinrichtung unterzogen, danach nach Sibirien verbannt, was ihn wiederum zu seinen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ inspirierte.

Durch Belinskis Brief vor allem diskreditiert, wurden die Jahre vor Gogols Tod in der Literaturwissenschaft häufig als ein „geistiger Niedergang“ in zunehmender seelischer Verwirrung betrachtet – lediglich die orthodoxe Kirche respektierte seine letzten Veröffentlichungen als Eigenständigkeiten eines genialen Schriftstellers.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sicht glücklicherweise geändert. Somit kann Gogols Werk endlich wirklich richtig erschlossen werden, etwa wenn Elisabeth von Erdmann in ihrer Untersuchung „Die Macht des Abwesenden“ den spannenden Zusammenhang zwischen Göttlicher Liturgie als Heiligem Mahl und Herabrufung der Präsenz Gottes und der erwähnten auffälligen Schilderungen von Mahlzeiten jedweder Art und Güte, von Fresssäcken und Säufern, von schlechtem Reden, von unheiliger Schacherei um Verwaltungslisten mit den Namen Verstorbener in den „Toten Seelen“ herausarbeitet. Von den meisten Lesern eben gerade für jene scharfsichtigen Zeichnungen von moralisch fragwürdigen Gestalten und Tuns geliebt, handelte es sich in Wirklichkeit um eine Art negative Theologie – Gogol schilderte uns eine Welt ohne Gott, den Abwesenden. Die Liturgie aber ist genau das Gegenteil davon – sie ist pravda, die göttliche Wahrheit und voll von Gott, der Positivabzug eines Negativs, dabei gleichzeitig die Matrix für eine Welt, in die Gott herabsteigen konnte.

Gogol scheiterte letztlich nicht an sich selbst, sondern an seinem Versuch, mithilfe seiner Poetik und seinen asketischen Bemühungen Raum in der Welt, besonders aber für sein Land Russland, dem Herabstieg Gottes Gelegenheit zu schaffen.

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