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Im Universum der Gnade

Thomas Hürlimann: Vom Atheistenclub bis zur Schwarzen Madonna von Einsiedeln. Von Gudrun Trausmuth
Sankt Gallus
Foto: KNA | Die Bibliothek von St. Gallen: Hürlimann wählt gern religiöse Kulissen.

Thomas Hürlimann, einer der ganz großen Schweizer Autoren der Gegenwart, Epiker und Dramatiker, Geschichtenerzähler und Philosoph. Beim Abendessen nach einem Interview erzählt er, dass ihn in der Berliner Studienzeit manche Kommilitonen geächtet hätten, weil er die Werke Ernst Jüngers in seinem Zimmer gestapelt hatte. Jemand, der weite Wege zurückgelegt hat und es immer noch tut.

1950 in Zug geboren, besuchte Hürlimann das Stiftsgymnasium in Einsiedeln, später studierte er Philosophie und war dann als Regieassistent und Produktionsdramaturg am Berliner Schiller-Theater tätig. Dass das Theater eine zentrale Kategorie seines Arbeitens und Denkens ist, merkt man nicht nur am Dramatischen und Filmischen, das seine Texte stilistisch kennzeichnet, sondern auch wenn er – wie 2017 bei einer Poetikvorlesung in Wien – grandios und mit Autorität zu inszenieren beginnt und einen der Hörer spontan einen humpelnden König Ödipus geben lässt, um zu veranschaulichen, weshalb eine solchermaßen beschädigte Führerfigur in den 1930er Jahren zur Absetzung der Inszenierung in Berlin geführt habe.

In Hürlimanns erstem Theaterstück „Großvater und Halbbruder“ (1981) taucht ein Flüchtling, der sich als Halbbruder Hitlers ausgibt, aber möglicherweise Jude ist, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in der Ostschweiz auf. Die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs thematisiert auch Hürlimanns „Der Gesandte“ (1991); mit der Komödie „Der Franzos im Ybrig“ (1991) griff er einen Einsiedler Klosterschwank von 1824 auf. Einen Höhepunkt von Hürlimanns Theaterschaffen bildet „Das Einsiedler Welttheater“ des Jahres 2000 und 2007. Das große Freilichtspiel vor der beeindruckenden Fassade der Klosterkirche Einsiedeln geht auf das Mysterienspiel „El gran teatro del mundo“ des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca zurück (1600–1681). Seit 1924 zeigten Laiendarsteller aus Einsiedeln dieses „Große Welttheater“ in einer Übertragung von Joseph von Eichendorff.

Im Jahr 2000 und 2007 konfrontierten der Autor Thomas Hürlimann und der Regisseur Volker Hesse das Publikum mit einer radikalen Neufassung des Stücks. Hürlimann sah in Calderons Drama, namentlich zwischen „el autor“, der bei Eichendorff „der Meister“ heißt, und der Welt einen existenziellen „Riss“: „Der Meister gehört ins gläubige Mittelalter, die Welt in die vernunftgeleitete Neuzeit. Während der Meister über eine Schöpfung gebietet, in der alles vorherbestimmt ist, vertritt die Welt eine Zeit, die sie selber gestalten möchte. Die beiden Gesetze widersprechen einander, und so klafft zwischen Calderons katholischem Glauben und seiner modernen Philosophie ein Riss auf, der die Stück-Kathedrale seit ihrer Errichtung im Jahr 1641 gefährdet.“ Hürlimann kittet den solchermaßen konstatierten Riss nicht, sondern vergrößert und verdeutlicht ihn vielmehr noch: Bei ihm gibt es „el autor“, die Figur des Meisters, gar nicht mehr und die Welt ist, wie Hürlimann selbst formuliert, „eine alte Schachtel“. Das Spiel vom Werden und Vergehen ist geprägt vom apokalyptischen „Endwind“, bei dessen siebten Anlauf die Totenglocke einsetzt, der Chor das Tedeum anstimmt und die Welt, die zum Tod geworden ist, schließt: „Und da das ganze Leben/ Nur Theater ist/ Sei euch und uns/ Das Spiel vergeben.“

Nach mehreren Jahren Theaterpause gab es 2015 die Uraufführung von Hürlimanns Komödie „Das Luftschiff“: Hürlimann wendet sich einer historischen Persönlichkeit zu und gedenkt des Schweizer Hoteliers und Visionärs Franz Josef Bucher (1834–1906) dem die Zentralschweiz unter anderem namhafte Hotels oder die Stanserhorn-Bahn verdankt.

Im September 2017 wurde – wiederum in Einsiedeln – Hürlimanns Komödie „Der Casanova im Chloster“, uraufgeführt. Hürlimann verarbeitet die Episode um eine Schweizreise Casanovas, wobei er die Sehnsucht des Frauenhelden nach einer „vita passiva“ thematisiert: Im Interview mit der ZNN meinte Hürlimann: „Diese Sehnsucht kann ich gut verstehen. Die Strecke hinter einem wird länger, die vor einem kürzer, da schaut man gern in aller Ruhe auf die Türen, die in andere Reiche führen.“ Und so lässt der Dramatiker seinen Casanova, den er als „Endzeitmenschen“ bezeichnet, gemeinsam mit den Benediktinern von Einsiedeln und sogar gemeinsam mit der Schwarzen Madonna von Einsiedeln selbst auf die Bühne treten.

In Hürlimanns Dramen zeigt sich, besonders durch den Einsatz des Schwyzer-Deutschen, sympathisch das Ringen um eine spezifische Identität, verwoben mit den großen Menschheitsthemen von Vergänglichkeit und Endlichkeit. Vielleicht kommt das Kraftvolle dieses Theaters von Hürlimanns Nähe zur Inszenierungspraxis? – Jedenfalls möchte man Hürlimanns sinnlichen und zugleich feinen Dramen eine ebensolche Präsenz im gesamten deutschen Sprachraum wünschen wie sie seinem Landsmann Friedrich Dürrenmatt nach wie vor beschieden ist.

So prägend das Theater für den Autor Hürlimann ist, bekannt wurde er durch seine Prosa. Mit der Familie Katz, die in unterschiedlichsten Werken den Bezugsrahmen bildet, entfaltet sich ein erzählerisches Universum. Im Changieren und Schillern zwischen vermeintlich Bekanntem und doch Neuem erfährt der Leser den Reiz einer Beheimatung, des subtilen Hineingenommenseins in eine Familie, einen Kreis von Vertrauten. Bereits in seinem Erzähldebut „Die Tessinerin“ (1981) schließt Hürlimann Szenerien und Motive späterer Werke auf: die überdeutlichen Erinnerungen an familiäre Autofahrten und Rituale, den Abschied von Zuhause und das Ankommen im Benediktinerstift Einsiedeln. Schließlich die lange Erzählung vom Sterben einer Lehrersfrau, bedrückend authentisch, über lange Strecken die Perspektive der an Krebs Dahinsiechenden spiegelnd – und dann im Text gleichsam nebenbei und in Klammern die klaffende Wunde des Erzählers benennend, das Sterben seines jüngeren Bruders: „Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett sitzt, wer in seinem Hirn nach Wörtern sucht, um nicht verrückt zu werden und zu grinsen wie ein Blöder, der erfährt, ob er nun der Euteler Lehrer sei am Bett seiner Frau oder ich am Bett meines Bruders (worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann), dass ein sterbender Mensch einem fremd wird, weil er Stille erzeugt– eine feierliche Stille.“

Tief hinein in Hürlimanns Familiengeschichte führt der 1998 erschienene und 2010 mit Bruno Glanz in der Hauptrolle verfilmte Roman „Der große Kater“, wo Hürlimann die Politikerkarriere seines Vaters, des Schweizer Bundesrats Hans Hürlimann, verarbeitet. 1979 war Hürlimanns Vater Hans Bundespräsident, Hürlimanns acht Jahre jüngerer Bruder Matthias starb mit 21 in jenem Jahr an Knochenkrebs. Familienepos und Politsatire, wunderbar zugänglicher Böll-Ton und Katz(en)geschichte – und immer, auch hier, das Ringen mit der Endlichkeit. Der große Kater, wie der Schweizer Präsident genannt wird, steht am Höhepunkt seiner Karriere und zugleich dräuen die Schatten der Vergänglichkeit: „Sein Präsidialjahr, sagte er sich, würde enden, seine Amtszeit ablaufen, sein Pult jedoch, der Sessel, die Bücher, die Lüster würden bleiben und wie dieser Krieger, der über den zahllosen Schranktüren an der Wand hing, ihre Gegenwart behaupten, ein ewiges Hier und Jetzt. Hm, dachte er sich, ob es am Ende möglich sein könnte, ein Ding zu werden und dadurch dem Tod zu entgehen?“

Der Staatsbesuch des spanischen Königspaares hätte der Höhepunkt der politischen Karriere des Präsidenten werden sollen. Doch eine Intrige seines langjährigen Weggefährten Pfiff, des Chefs der Sicherheitspolizei, droht den großen Kater nun auf allen Fronten zu ruinieren: der jüngste Sohn des Präsidentenpaares liegt mit Krebs im Sterben; Pfiff aber hatte den Besuch besagter Kinderklinik ins Damenprogramm aufgenommen, so dass für die Präsidentengattin Marie – welche Kater Pfiff einst ausgespannt hatte – der fatale Eindruck entstehen musste, Kater benutze den sterbenden Sohn für seine politischen Absichten. Kater setzt alles ein, um den Kampf zu gewinnen: „Es ging um Leben und Tod, er ahnte es, aber dafür war er gewappnet, das hatte er gelernt, im Kampf gegen den großen Niemand, das Nichts, war der siebenjährige Bub zu seinem Namen gekommen.“

Die weltberühmte Bibliothek des Klosters St. Gallen ist der ehrwürdige Schauplatz der Novelle „Fräulein Stark“ (2001), die in den sechziger Jahren angesiedelt ist. Während der Sommerferien erlebt der zwölfjährige Neffe des Stiftsbibliothekars Jacobus Katz aufregende Wochen: Seine Aufgabe, den Besucherinnen des Bibliothekssaals in Filzpantoffel zu helfen, konfrontiert ihn mit bisher ungeahnten Perspektiven – eine hochironische Erzählung über die Entdeckung der Sinnlichkeit im Reich des Geistigen. Die typisch Hürlimann'sche Kombination von Autobiografie und Fiktion hat den tatsächlich als Stiftsbibliothekar tätigen Onkel des Autors, Dr. theol. Johannes Duft, übrigens zu einem mehrseitigen „Anti-Hürlimann“ veranlasst – das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Literatur bleibt kompliziert!

Die Familiengeschichte „40 Rosen“ (2006) setzt nichtsdestotrotz mit Hürlimanns Grundprinzip fort, aus vertrauten familiären Motiven heraus eine jeweils neue Geschichte zu weben. Diesmal prägt die Sicht der Mutter die Perspektive: Marie Katz, Pianistin aus reichem jüdischem Hause, heiratet den politisch hochambitionierten Max Meier. Wieder eine Geschichte des Scheiterns, des Sinnverlustes trotz (oder wegen?) einer großen Liebe, wieder eine Geschichte mit autobiografischen Implikationen.

Ein anziehender Erzähler, aber auch ein reizvoller Denker über die Literatur hinaus – und jemand, der erfrischend unbefangen und angstfrei auf dramatische Phänomene reagieren kann: So treibt Hürlimann etwa der Verlust des Kreuzes im öffentlichen Raum um. Überhaupt hat ihn, Klosterschüler und Atheistenclubgründer des Stiftsgymnasiums Einsiedeln, das Religiöse nie losgelassen – was sich, in kritischen und wohlwollenden Bezügen, konsequent in seinen Texten manifestiert. 2015 ist Thomas Hürlimann schwer an Krebs erkrankt und vermerkt in berührender Offenheit, dass er im Zuge der Krankheit, „auf der Schwelle“, ein Gehaltensein, eine religiöse Bindung festgestellt habe: „Ich habe dann, als ich wieder aus dem Krankenhaus war, dieses wunderschöne Rilke-Gedicht gelesen ,Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.‘ Ich hatte die Gnade, in diesem Fallen, vor diesem Abgrund, die Hand zu spüren.“

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