Kaum mehr als fünfzig, sechzig Jahre sind vergangen, seit in weiten Teilen des Nachkriegsdeutschlands die Karwoche noch als Zeit der öffentlich spürbaren Stille und Trauer begangen wurde: Festlichkeiten, Vergnügungen, Unterhaltung – während der letzten Woche der Fastenzeit war dafür kein Platz in einer weitestgehend christlich sozialisierten Gesellschaft. Die Schrecken des Krieges, persönliche Todes- und Verlusterfahrungen halfen mit, das für diese Phase gebotene Lebensgefühl der Klage und des Kummers (althochdeutsch: kara) zu erhalten, zu kultivieren.
Gottbesessenheit
Das Leiden und Sterben Jesu als Sinn der Karwoche ist dem durchschnittlichen heutigen Bewusstsein kaum noch gegenwärtig – diese Woche ist banalisiert als Endspurt vor einem langen Wochenende. Die zeitgenössische Literatur will sich jedoch von dieser religiösen Ungezwungenheit nicht anstecken lassen und bewahrt Spuren der Kartage in ihren Werken, Palimpseste der Moderne. Von Stefan Meetschen