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Die Lanze des Longinus

Eine Passionsreliquie zwischen Glaube und Politik – In der Fastenzeit wird die Leidensgeschichte Jesu Christi durch berühmte Reliquien verlebendigt. Von Ulrich Nersinger
Longinuslanze
Foto: IN | Kreuzigung Christi mit Lanzenstich des Hauptmanns Longinus, Fresko von Fra Angelico (um 1437–1446).

Vier mächtige Pfeiler tragen die Kuppel von Sankt Peter, die majestätisch die Grabstätte des Apostelfürsten und den Papstaltar der Basilika überspannt. Urban VIII. (Maffeo Barberini, 1623–1644) bestimmte sie für die Aufbewahrung hochverehrter Reliquien der Christenheit. Die Pfeiler sind mit imposanten Balkonen versehen, von denen man den Gläubigen zu bestimmten Tagen des Kirchenjahres, vor allem in der vorösterlichen Bußzeit, den Reliquienschatz des Gotteshauses zeigte und noch immer zeigt. Der Pfeiler der heiligen Helena bewahrt einen Splitter des Kreuzes auf; die Mutter Kaiser Konstantins des Großen hatte bei einer Wallfahrt ins Heilige Land das Siegeszeichen Jesu Christi wiedergefunden. Im Pfeiler des heiligen Andreas fand sich früher der Schädel des Apostels; Papst Paul VI. (Giovanni Battista Montini, 1963–1978) hatte das Haupt des Andreas 1964 der Kirche des Ostens zurückerstattet. Im Pfeiler der heiligen Veronika befindet sich ein Tuch, mit dem der Legende nach das Gesicht des Herrn, als dieser den Weg nach Golgotha beschritt, abgetrocknet worden sein soll.

Der Pfeiler des heiligen Longinus birgt eine Lanze. Von ihr berichtet der heilige Johannes in seiner Niederschrift des Evangeliums:

„Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus“

(Joh 19, 33-34).

Der Weg der Longinuslanze in die Peterskirche

Wer sich fragt, wie diese Reliquie den Weg in die Peterskirche gefunden hat, erhält einen ersten Hinweis im südlichen Seitenschiff des Doms. Dort ist Innozenz VIII. (Giovanni Battsta Cibo, 1484–1492) beigesetzt. Das Grabmal des Papstes ist das älteste in der Basilika. Es stand schon in Alt Sankt Peter und wurde als einziges in den Neubau des Gotteshauses übernommen. Antonio und Pietro Pollaiuolo haben dieses Kunstwerk der Renaissance geschaffen. Die rechte Hand des Cibo-Papstes ist zum Segen erhoben, in der linken hält er die Spitze der heiligen Lanze, mit der die Seite Christi durchbohrt wurde.

Sultan Mehmet II. hatte im Jahre 1453 Konstantinopel erobert und damit das Ende des byzantinischen Kaiserreiches besiegelt. Dem neuen Herrscher am Bosporus fiel mit der Einnahme der Stadt einer der größten Reliquienschätze der Christenheit in die Hände. Als Mehmet 1481 verstarb, kämpften seine Söhne Bajazet und Djem um das Erbe ihres Vaters. Bajazet gelang es, die meisten Wesire und vor allem die Janitscharen, die Elitetruppe des Sultans, auf seine Seite zu bringen. Nach schweren Niederlagen und zahlreichen Giftanschlägen auf seine Person blieb Djem nur die Flucht in den Westen. Sie führte ihn nach Rhodos, der Insel und dem Sitz des Johanniterordens. Djem drohte zum Spielball der europäischen Mächte zu werden, dann erhob der Papst Anspruch auf ihn.

Im März 1489 landete der Türkenprinz in der päpstlichen Hafenstadt Civitavecchia. Sein Geleit bestand aus zehn ranghohen Ordensrittern. Er wurde dem Kardinallegaten übergeben, den ihm der Papst eigens entgegengesandt hatte und mit dem er unter großer Feierlichkeit in Rom einzog. Einen Tag nach seinem Eintreffen in der Ewigen Stadt empfing ihn der Pontifex Maximus in offizieller Audienz. In Rom lebte Djem nun, je nach Blickwinkel, als Dauergast oder in einer Art ehrenvoller Geiselhaft. Der neue Sultan, Bajazet II., besaß kein Interesse an einer Rückkehr seines Bruders, der ihm die Herrschaft hätte streitig machen können. Bereitwillig zahlte er eine hohe Summe an den Heiligen Stuhl, die dem standesgemäßen Unterhalt des Prinzen und dessen Verbleiben in Rom diente.

Das Geschenk des Sultans Bajazet

Gleichzeitig aber versprach Djem für den Fall, dass man ihn zum Thron verhelfe, die katholischen Mächte nicht mehr zu bekämpfen, die Verfolgung der Christen in seinem Reich einzustellen und überdies die Türken aus Europa zurückzuziehen und Konstantinopel der Christenheit wiederzugeben. Trotz ihres vermutlich illusorischen Charakters zeigte sich Sultan Bajazet durch die Versprechungen Djems beunruhigt. Um eine drohende Gefahr abzuwenden und den Papst wohlwollend zu stimmen, in der Erwartung, dass der Pontifex seinen Bruder noch möglichst lange bei sich behalten werde, entschloss sich der osmanische Herrscher zu einem besonderen Geschenk. Er übersandte dem Papst durch eine Gesandtschaft hoher Persönlichkeiten die in Konstantinopel verwahrte heilige Lanze. Am 30. Mai 1492 traf die Passionsreliquie unter großem Jubel in der Ewigen Stadt ein.

Geschichte und Verehrung der Longinuslanze

Die „Pilatusakten“ des apokryphen Nikodemusevangeliums weisen dem römischen Soldaten, der mit einem Speer in die Seite Jesu stach, den Namen „Longinus“ zu. Der Speer des Longinus wird durch den apokryphen Bericht aus dem vierten Jahrhundert zur „lancea sacra“, zur heiligen Lanze. Die Popularität der Pilatusakten trug zu einer weiten, immer größer werdenden Verbreitung der Verehrung der Longinuslanze bei. Die Reliquie erlangte höchstes Ansehen und nahm einen gewichtigen Platz in der Kultur- und Religionsgeschichte des Abendlandes ein. Im Hochmittelalter kam die Überzeugung auf, dass sie ihrem Besitzer alle Machtansprüche legitimiere und ihrem Träger in der Schlacht Unbesiegbarkeit garantiere.

Wie bei vielen anderen Passionsreliquien so gibt es auch bei der heiligen Lanze nicht nur eine. Als berühmteste galt für lange Zeit diejenige, die noch heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg zu finden ist. Sie gehört zu den Reichskleinodien der römisch-deutschen Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Die Longinuslanze soll über den heiligen Mauritius, dem Anführer der Thebäischen Legion, und Kaiser Konstantin dem Großen ihren Weg in die Geschichte angetreten haben. In Etschmiadsin wird eine heilige Lanze verehrt, die der Apostel Thaddäus nach Armenien gebracht haben soll. Sie befand sich Jahrhunderte in dem Besitz des Geghard-Klosters nahe Eriwan, bis sie an ihren heutigen Aufbewahrungsort gelangte. König Ludwig IX. von Frankreich (1214–1270) brachte von den Kreuzzügen, an denen er teilgenommen hatte, die Dornenkrone und einen Partikel der heiligen Lanze mit und ließ für die Reliquien in Paris die Sainte-Chapelle bauen. Bei dem Partikel handelte es sich um die abgebrochene Spitze der in Konstantinopel und später in der Peterskirche aufbewahrten Lanze; die Reliquie der Sainte-Chapelle ging während der Französischen Revolution verloren.

Fragen nach der Echtheit der in Sankt Peter verehrten Passionsreliquien begegnen die Römer mit dem ihnen eigenen Pragmatismus. Letztendlich ist ihnen das, was hinter diesen geistlichen Schätzen – die sie in ihrer Körperlichkeit schätzen, lieben und verehren – steht, wichtig. Und so ist für sie die in der Basilika verwahrte Lanze des Longinus eine Realität des Glaubens. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts galt es in Rom, über die Echtheit der Schädelreliquie eines Märtyrers zu entscheiden. Gleich zwei Gotteshäuser der Ewigen Stadt bestanden mit Vehemenz darauf, das wahre Haupt des Heiligen zu besitzen. Nach dem kirchlichen Urteilsspruch fragte man die unterlegene Partei, wie sie denn nun mit ihrer „Reliquie“ umzugehen gedenke. „Ach, wir werden weniger und kleinere Kerzen vor sie anzünden“, lautete die Antwort.

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