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MGTOW: Den eigenen Weg gehen

In den USA formiert sich unter dem Kürzel MGTOW eine Gruppe von Männern, die sich radikal vom Umgang mit Frauen zurückziehen. Von André Thiele
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If you havin' girl problems I feel bad for you son/ I got 99 problems, but a bitch ain't one“, singt Jay-Z in seinem berühmten Rap. Auf Deutsch: „Wenn Du mit Mädchen Probleme hast, Sohn, tut es mir leid für Dich/ ich habe 99 Probleme, aber eine Schlampe wird ganz bestimmt keines sein“.

Wer sich MGTOW (sprich: migtau) nähert, muss zwei Dinge tolerieren: Akronyme und Vulgarismen. Die ersteren sind praktisch, die zweiten verzeihlich, denn es geht um die Markierung von Räumen männlichen Sprechens – wer einmal längere Zeit unter Männern war, weiß, wie ruppig es da verbal zugeht, ohne dass diese Sprechweise weniger human wäre als das, was unsere Zeit „zivilisiert“ nennt.

MGTOW bedeutet „men going their own way“, Männer gehen ihren eigenen Weg. Hierunter ist kein politisches Programm zu verstehen, das parteipolitischen Prozessen zugänglich wäre. Vielmehr resultiert MGTOW aus dem nach Hegel machtvollsten sozialen Ort: dem Unten, da wo das bürgerliche Leben konkret ist.

MGTOW trat etwa 2013 zuerst in der Männerrechtsbewegung (MRA) auf als Ergebnis der „red pill philosophy“ (Rote Pillen Philosophie, RPP). Diese war der Versuch einer Systematisierung des allgemeinen Verhaltens von Frauen, der Dynamik von Beziehungen und der Logik sozialer Institutionen. RPP nahm bewusst keinen Bezug auf Theoretiker des Weiblichen – etwa Schopenhauer oder Weininger –, sondern trat als Resultante von konkreten Einzelfällen und den realen Reaktionen von Männern hierauf an. Viele Männer folgten und folgen bereits spontan den Grundsätzen der RPP, bevor sie durch MGTOW die systematische Grundlage ihres Handelns verstehen. Darum wächst MGTOW auch mit atemberaubender Geschwindigkeit: Obwohl die heute größten MGTOW-Kanäle erst 2015 zugänglich waren, kann die Gruppe in den Vereinigten Staaten derzeit auf bis zu 400 000 Aktive veranschlagt werden, in Japan zählt die Gruppe der „Herbivoren“ bereits Millionen.

MGTOW ist ein kommunikationstechnisches Tunnelnetzwerk korrespondierender Röhren, das sich hauptsächlich in den Neuen Medien abbildet. MGTOW hat keinen „Ort“, es gibt keine Versammlungen oder Magazine. Die in ihrer sozialen Realität vereinzelten Männer finden in den sozialen Netzwerken zusammen und besprechen – entgegen dem Mythos von ihrer mangelnden Kommunikationsfähigkeit – ihre Lebenslage und -haltung so intensiv und effektiv, dass sich eine allgemeine Haltung herstellt, die die Isolation des Einzelnen aufhebt, ohne dass er sich einem Kollektiv anschließen müsste. Es gibt kaum Literatur, nicht einmal textproduzierende Blogs: Mehr als 90 Prozent der Kommunikation laufen rein verbal ab. Das entzieht MGTOW direkt dem Marketing und der Akademisierung – beide Felder werden als Bereiche des Weiblichen begriffen, von denen man sich abwendet.

Die in MGTOW agierenden Männer interessieren sich konsequent nicht mehr für Meinungen oder Beiträge von Frauen. Frauen werden in MGTOW nicht ausgegrenzt – sie werden nur ihrer zentralen sozialen Gestaltungsmacht beraubt: Die MGTOW-Männer wollen nichts von ihnen. Keine Anerkennung, keine Aufmerksamkeit, keine Hilfe, keine Ehe, keine Partnerschaft – keinen Sex. MGTOW-Männer wollen – anders als etwa die MRAs oder die Alt-Right – nicht das Verhalten von Frauen verändern. Sie wenden sich einfach von ihnen ab.

Die Haltung von MGTOW sei am Beispiel der Medizin erläutert: Derzeit werden mehr als 60 Prozent der Stellen für Ärzte unter 35 in Deutschland von Frauen besetzt. Es ist offenkundig, dass dies bald 70 Prozent und mehr sein werden. MRAs gehen nun so vor, dass sie ein Ungleichgewicht konstatieren, eine Überrepräsentierung von Frauen in der Medizin. Sie fordern dann, dass die spezifisch weiblichen Eigenschaften in der Medizin gleichberechtigt durch die spezifisch männlichen ergänzt werden müssten, damit eine möglichst gute Versorgung erreicht werde. MGTOW hingegen nimmt an, dass Männer gezielt die Medizin meiden, weil diese ihren Charakter geändert hat: Von der Aufstiegswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ist sie zu einer weitgehend ausgepaukten Grenznutzenwissenschaft geworden, die ihre Leistungen mit immer größerem Aufwand nur noch marginal verbessert, die singuläre Einzelleistung, die das Handlungsideal von Männern ist, ist vom exzellenten Mittelmaß verdrängt worden, in dem Frauen brillieren und das für Männer toxisch ist.

MGTOW sieht Männer nicht als überlegen an. Im Gegenteil, gerade in den sozialen „Spielen“ der Geschlechter analysieren MGTOW-Männer immer wieder, dass sie Frauen in vieler Hinsicht drastisch unterlegen sind. MGTOW will nicht Frauen davon abhalten, ihre Stärken auszuspielen. Männer wollen vielmehr ebenso handeln, sich also auf ihre eigenen Interessen und Stärken konzentrieren. Frauen sollen nicht „anders“ sein als sie sind; aber sie sollen die Konsequenzen ihres Handelns selbst tragen und nicht direkt oder indirekt auf Männer abwälzen.

Die die Kultur des Abendlands bestimmende Grundannahme, dass Männer die Frauen aufgrund ihrer relativen Schwäche zu schützen und zu versorgen haben, ist aus Sicht von MGTOW aufgehoben. Der Mythos lebe noch, die Realität sei eine andere. Frauen hätten die wesentlichen gesellschaftlichen Institutionen erobert, der Wohlfahrtsstaat sei radikal einseitig auf die Interessen der Frauen zugeschnitten, der Prozess sei unumkehrbar, Männer könnten sich nur noch abwenden.

MGTOW-Männer werden in vier Gruppen eingeteilt: Die sogenannten „purples“ (Purpurne) beschäftigen sich mit dem aufklärerischen Anteil der RPP, lernen ihr eigenes und das Verhalten der Frauen zu verstehen und werden dadurch zunehmend unfähig, am „normalen“ sozialen Geschehen teilzunehmen. Die „pump and dump“-Gruppe (auf deutsch: pumpen und entleeren) hat kurzfristige, zumeist rein sexuelle Beziehungen zu Frauen, sie benutzt Pornographie und Prostitution. Die „full monk“-Gruppe (Voll-Mönch) hat graduell keinerlei sexuelle Beziehungen mehr und meidet den Umgang mit Frauen insgesamt. Die „off grid“-Gruppe (aus dem Raster) ist die geheimnisvollste: Sie zieht sich aus allen sozialen Beziehungen weitgehend zurück.

Die „full monk“-Gruppe ist erstaunlicherweise diejenige, die am schnellsten wächst. Nach #metoo und dem Fall des US-Komikers Aziz Ansari, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, wird immer klarer, dass die Instantsex-Kultur nicht mehr funktioniert. In dieser Gruppe liegt der Berührungspunkt zum katholischen Glauben: Keuschheit ist hier nicht Übel, sondern wird als Disziplin verstanden, die Freiheit ermöglicht.

Katholiken stellen zusammen mit Lutheranern eines der aktivsten Subsysteme im MGTOW-Kosmos. Einerseits unterscheiden sie sich elementar vom utilitaristischen MGTOW-Mainstream, weil sie das Konzept der Ritterlichkeit nicht infragestellen, sondern der Walt-Disney-Version hiervon, dem „white knighting“ (weißer Ritter), bewusst entgegenhalten und im Gegenteil neu beleben wollen; andererseits sind sie wesentlich konsequenter in ihrer Lebenshaltung, weil sie sich auf eine lange Tradition innerweltlicher männlicher Askese beziehen können. Für Katholiken ist die „red pill rage“ (rote Pillen-Wut), die notwendige Phase erheblicher Wut, die vor allem junge Männer durchlaufen, wenn sie erkennen, dass sie wahrscheinlich in ihrem Leben keine weitere sexuelle Beziehung mit Frauen haben werden, sehr viel kürzer: Sie betreten einen weiteren Raum der Kathedrale ihres Glaubens, dessen Bedeutung ihnen von den vor der Tür stehenden Stuhlkreisen und „Weiberaufstands“-Infoblättern bisher verstellt worden war. Das „going full monk“ ist für katholische MGTOW-Männer ein Teil der bewussten Entfaltung ihres Glaubens.

Warum sollten katholische Männer dem hohen Ideal von Familie und Ehe entsagen wollen? Sind katholische Frauen nicht „anders“?

Aus der Sicht von MGTOW gilt: AWALT, „all women are like that“, alle Frauen sind so. Die Tatsache, dass der Haifisch eine Mantilla trägt, schützt die Robbe nicht vor ihm. Zu viele katholische Frauen fahren mit der Rechten im Gesangbuch herum, während sie mit der Linken ihr Facebook-, Instagram- oder Tinder-Profil aktualisieren.

Katholischen Männern werden seit Jahrzehnten die einfachsten sozialen Kontrollmechanismen ausgetrieben: die Tugend einer Katholikin wird als gegeben angenommen, ein Hinterfragen führt zu denselben Bestrafungsmechanismen wie in der nichtkirchlichen Bonobo-Kultur: das „slut-shaming“, also das Haftbarmachen der Frau für die Ausübung ihrer kulturbegründenden Macht der weisen Wahl ihres Mannes, wird als frauenfeindlich und „unzeitgemäß“ verworfen. Jungfräulichkeit wird verlacht. Wird auch nur angedeutet, dass eine unverheiratete Mutter eventuell per se nicht besonders gut darin sein kann, zu Glaubensfragen zu sprechen, kommt umgehend das Gerede von dem Stein, den man nicht werfen darf. Warum sollte ein katholischer Mann in solcher Atmosphäre seine Ehe eingehen, deren Scheitern schon rein statistisch genauso wahrscheinlich ist wie bei den Heiden? Frauen, die an den Verkehrsformen der modernen Welt teilnehmen wollen, sollen auch deren Niedergang teilen – dabei gibt es bei MGTOW wenig Sympathien für reaktionäre Theorien von der Wiederkehr überkommener Verhältnisse: Früher war alles Notwendigkeit, wir aber leiden an den Folgen der Freiheit, diese werden nicht verschwinden, sie müssen aufgehoben, im Neuen des Bundes überwunden werden. Das Leiden der Frauen, die dies für sich ebenfalls entdeckt haben, wird gesehen und respektiert; aber es kann kein Zurück in das Joch der Sentimentalität geben.

Manchmal muss man das idyllische Dorf zerstören, um es zu retten. Das Selbstverständnis vieler katholischer Männer wird sich durch MGTOW absehbar fundamental ändern. Sollen wir das fürchten? In dem eingangs zitierten Rap-Song „99 Problems“ sagt Jay-Z: „We‘ll see how smart you are when the canine comes.“ Wir werden sehen, wie schlau Du bist, wenn der Spürhund kommt.

Der Autor ist freier Journalist und ehemaliger Verleger. Im Jahr 2017 wurde er katholisch getauft.

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