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Was Erzieherinnen über sichere Bindung wissen müssen

Kinder brauchen verlässliche Bezugspersonen, um ein sicheres Bindungsmuster aufzubauen. Studien zur Stressbelastung zeigen: Eine Betreuung in der Gruppe kann das nicht leisten.
Eltern sind die primären Bezugspersonen ihrer Kinder
Foto: Ivan Jekic | Eltern sind die primären Bezugspersonen ihrer Kinder und spielen deshalb eine wichtige Rolle für Stressbewältigung und Emotionsregulation. Auch Erzieher haben Einfluss darauf.

Die ausreichende Erfahrung sicherer Bindung ist für Kinder eines ihrer wichtigsten Grundbedürfnisse. Sichere Bindung entsteht aus feinfühliger und unmittelbarer Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse und zeitnaher, angemessener Reaktion durch wichtige Bezugspersonen. Sie ist ein wechselseitiger Prozess, der erheblicher Zeit und Hingabe durch die erwachsenen Personen bedarf.

Eltern sind die natürlichen, primären Bindungspartner ihrer Kinder und haben dadurch die höchste Kompetenz, deren Emotionen und Stressbelastungen zu modifizieren und zu regulieren. Sie vermitteln ihren Kindern im Regelfall Geborgenheit und eine sichere Basis für die allmählich zunehmende spielerische Erforschung ihrer Umwelt. Neben dieser Primärbindung können Kinder auch Sekundärbindungen aufbauen, zum Beispiel zu ErzieherInnen, die aber meist geringere emotionsregulierende Kompetenz besitzen.

Langzeitstudien haben gezeigt, dass sicher gebundene Kinder in jedem Lebensalter mehr positive und Resilienz fördernde Persönlichkeitseigenschaften zeigen. Sie sind schon als Kleinkinder einfühlsamer, selbstständiger in der Lösung von Konflikten, konzentrierter, sind als Jugendliche offener, beherrschter, weniger vermeidend, bei Gleichaltrigen beliebter und zeigen als Erwachsene eine bessere Beziehungs- und Partnerschaftsfähigkeit.

Bindung reguliert Stress und fördert Lernprozesse

Aus der Bindungsforschung ist lange bekannt, dass sichere Bindung das wichtigste Regulativ für kindliche Stressbelastungen darstellt. In den letzten Jahren hat neurowissenschaftliche Forschung dies durch neue Erkenntnisse eindrucksvoll untermauert.

Viele Studien haben gezeigt, dass Bindung ganz wesentlich über das Hormon Oxytocin, auch als Bindungshormon bezeichnet, aufgebaut und aufrechterhalten wird. Oxytocin ist der wichtigste Gegenspieler des Stresshormons Cortisol. Es senkt den Cortisolspiegel und den Blutdruck, reduziert Angst, unterstützt Heil- und Lernprozesse, fördert Vertrauen, beruhigt, entspannt und verbessert die soziale Interaktion, indem es die Fähigkeit fördert, soziale Signale richtig zu deuten.

Krippenbetreuung erhöht das Stressniveau

Seit den 90er Jahren kann das individuelle Stressniveau auch bei Kindern recht unkompliziert durch über den Tag verteilte Messungen von Cortisol aus Speichelproben bestimmt werden. Schon bei kleinen Kindern zeigt sich dabei im Normalfall das typische, gesunde Cortisolprofil mit einem ausgeprägten Gipfel kurz nach dem morgendlichen Aufstehen, einem anschließenden steilen Abfall bis zum Mittag und einem flacheren Absinken bis in die Nacht hinein.

Seit Ende der 90er Jahre weiß man, dass sehr viele Kleinkinder in außerfamiliärer Gruppenbetreuung Abweichungen von diesem Normalprofil zeigen. Bei diesen Kindern, je nach Studienkollektiv bis zu über 90 Prozent, kommt es an jedem Betreuungstag – im Gegensatz zu Familientagen – zu einem mehrstündigen Anstieg des Cortisols vom Vormittag bis zum Abholzeitpunkt, das heißt zu einer verlängerten Aktivierung des Stresssystems. Dieses Phänomen betrifft ausdrücklich nicht nur die Eingewöhnungsphase, sondern zeigt über Monate sogar zunehmende Tendenz. Die beiden wichtigsten ursächlichen Faktoren hierfür sind nach Einschätzung der meisten Autoren die frühe und lange Trennung von den Eltern sowie die noch sehr unreifen und offenbar als bedrängend empfundenen Interaktionsmuster zwischen Kleinstkindern.

Den stärksten Einfluss auf dieses Phänomen hat das Alter des Kindes. Am deutlichsten betroffen sind ein- und zweijährige Kinder, danach lässt dieses Muster kontinuierlich nach. Weitere Faktoren sind die Dauer des Betreuungstags, das Temperament des Kindes sowie die Qualität der Betreuung. Studien zeigen aber, dass gute Qualität vor allem bei älteren Kindern positive Effekte hat.

Natürlich gibt es Familien, in denen – bedingt durch unterschiedliche psychosoziale Belastungen – chronische Aktivierung des kindlichen Stresssystems durch Bindungsmangel auftritt. Hier sind aber familienbezogene Unterstützungsmaßnahmen zur Stabilisierung oder – im Extremfall – die Aufnahme in bindungsgeschulte Pflegefamilien oft wesentlich sinnvoller als frühe und umfangreiche Gruppenbetreuung.

Für die meisten Erwachsenen sind dramatische Verhaltensmuster gestresster Kleinkinder ohne weiteres wahrnehmbar. So kommt es zum Beispiel im Rahmen von Trennungssituationen bei vielen Kindern zu Weinen, Schreien oder Anklammern. Bei fast allen Kindern legen sich diese Muster, wenn die Trennungen sich täglich wiederholt ereignen. Bei einem Teil der Kinder ist dies als eine echte Eingewöhnung und innere Beruhigung einzustufen. Bei vielen Kindern kommt es aber offenbar zu anhaltender Stressbelastung in Form sogenannten „Stillen Leidens“, das oberflächlicher Betrachtung oft entgeht.

Verhaltensauffälligkeiten als Bewältigung

Es gibt aber auch Kinder, die ihre andauernde Stressbelastung eher ausagieren, zum Beispiel in Form von Streitsucht, Ungeduld, Störverhalten, Aufsässigkeit, Wutanfällen oder Aggressivität, wie dies in der qualitativ weltweit besten Studie zur Frühbetreuung in den USA nachgewiesen wurde. Hier zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen solchen Verhaltensauffälligkeiten und der außerfamiliären Betreuungsdauer in den ersten vier Lebensjahren. Dies wurde in zahlreichen weiteren Studien bestätigt und ist mittlerweile auch in kinderärztlichen Praxen und Entwicklungsambulanzen ein geläufiges Phänomen.

Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, dass eine gute Regulation frühkindlicher Stressbelastungen von großer Bedeutung für kindliches Wohlbefinden, für eine positive Persönlichkeitsentwicklung und für die lebenslange Gesundheit ist. Sichere Bindung ist der wichtigste Regulator des Stresssystems und wird bei sehr jungen Kindern in erster Linie durch die Eltern gewährleistet. Die Bindungseffektivität lässt sich neben Verhaltensbeobachtung gut auch durch Messung kindlicher Stresshormone bestimmen. Forschungsergebnisse zeigen, dass außerfamiliäre Gruppenbetreuung zur Einhaltung einer akzeptablen Stressbelastung neben hoher Qualität auch einer unteren Altersgrenze sowie einer deutlichen Begrenzung der täglichen Betreuungszeiten bedarf, nachzulesen zum Beispiel in den „Bielefelder Empfehlungen“, zu finden unter www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de.

Von Rainer Böhm


Zum Autor:

Dr. med. Rainer Böhm ist Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bethel, Bielefeld. Mit seiner Expertise als Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie war er unter anderem als Sachverständiger beim Familienausschuss des Deutschen Bundestags tätig. Dr. Böhm ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

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