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Zwischen Liebe und Labor

Kann der Mensch frei über das Leben verfügen? Oder wird es ihm geschenkt? Ein Essay. Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
„Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo
Foto: Wikimedia Commons | „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo zeigt: Das Leben wird dem Menschen von Gott gegeben.

Gibt es“ einfach noch Kinder? „Es gibt“ drückt ja Gabe und Geber, auch die Überraschung des Beschenkten aus. Stattdessen sind Kinder geplant und selbstverständlich „gemacht“, zwei Prozent werden im Labor extrakorporal hergestellt, jedes dritte bis vierte Kind wird in den Industriestaaten abgetrieben, die nicht gezeugten, verhüteten Kinder „lagern wie eine Wolke“ über dem Land, so Botho Strauß in einer düsteren Kulturkritik.

Viele von den verbleibenden werden frühzeitig „gescreent“, auf Mängel untersucht, die Eltern werden über mögliche Missbildungen des Fötus aufgeklärt, so dass sich die gute Hoffnung nachhaltig trübt und jeder Arzttermin als neue Drohung ansteht. Biologische und soziale Elternschaft trennen sich; Kinder können zwei Väter (einen biologischen, einen sozialen) und mehrere Mütter (Eimutter, Leihmutter, Beimutter) haben. Oder frau „braucht“ ein Kind, um ihr Gefühlsleben auszuleben, und bedient sich einer anonymen Samenbank oder bittet den netten Nachbarn um Sperma.

Doch sind es denn wirklich die Eltern, noch dazu die Kette unbekannter Vorväter und Vormütter, die das Kind, dieses Kind gewollt und „angefertigt“ haben? Nein: „Kinder sind die unbeabsichtigte Nebenfolge anderweitig intentionaler Handlungen“, wie der treffende Satz lautet. Selbst wenn – hässlich ausgedrückt – Eltern ein Kind „machen“, gehen Zeugen und Empfangen weit über ein biologisches Verfertigen hinaus. Auch Eltern müssen das Kind in seiner ihm eigenen Lebendigkeit erst (unabschließbar) kennenlernen; es ist gerade nicht ihr gezieltes „Produkt“. Selbst In-vitro-Fertilisation, selbst Klonen bedient sich schon vorhandener lebendiger Materialien. Tatsächlich geben die Eltern dem Kind zwar leibliche und seelische Vorgaben – den Genotyp – mit, aber keineswegs den Phänotyp, die Ausgestaltung. Daher müssen Eltern das Kind als Unbekanntes annehmen, ja, das Kind selbst muss sich später im Reifungsvorgang annehmen, seine Grenze und sein Nichtvermögen ebenso wie seine Mitte und sein Können. Leben ist Vor-Gabe, unbegriffen groß, uneingeholt schön. Und Leben enthält das Recht auf Zufall. Dasein kann man wollen und technisch erzwingen, Sosein nicht.

Kind als Habe?

Offene oder verborgene Selbstdurchsetzung gegenüber dem Kind gibt es gleich doppelt: nicht nur durch Nichtzeugen oder Nichtgebären, sondern auch durch das „Benutzen“ des Kindes zu eigenen Zwecken. Ein Beispiel: Adam Nash wurde vor rund 30 Jahren in den USA gezeugt, um seiner kranken Schwester Knochenmark zu spenden. Unter zehn anderen Geschwister-Embryos ergab sich seine genetische Struktur als die ähnlichste; die anderen Embryos wurden nach PID vernichtet. „Zweck“ seiner Erzeugung war also nicht er selbst – er war nur ein „help sibling“ (Hilfsgeschwister). Man könnte sich eine Entwicklung vorstellen, wonach das Kind nach Spendung des erforderlichen Organs wieder „vernichtet“ würde – sein Zweck wäre erfüllt.

Natürlich ist niemand außerhalb der Interessen anderer zu sehen. Beziehung gehört überhaupt zum Leben, und der Blick auf andere ist immer auch vom Ich aus gerichtet. Aber die rein zweckbestimmten Fragen lauten: Kann man oder frau jetzt oder erst später oder gar nicht das neue Leben brauchen; wie weit stört es den eigenen Lebensentwurf? Umgekehrt: „Benötige“ ich ein Kind, um meine mütterlichen und väterlichen Anlagen zu entfalten – wie es auch beim angeblichen „Recht auf ein Kind“ zu hören ist? Nietzsche, treffsicher: „Redet aus deinem Wunsche das Tier und die Notdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir?“

So fällt man „unerbittlich in eine Haltung der Anmaßung gegenüber dem Kind und beginnt zweifellos unter dem Anschein von Sorge einen wahren Kampf mit dem Kind, um aus ihm das zu machen, was man sich selbst als Modell und Ideal gedacht hat. (...) da behandelt der Mächtige den schwachen Menschen als ein Wesen ohne Recht, weil er dort selbst der Gesetzgeber ist und das Schicksal der Untergebenen bestimmt“ (Maria Montessori). Von daher ist schon die Zeugung eines Kindes in vitro als technische Planung anzufragen – und ebenso Präimplantations- oder Pränataldiagnostik. Selbstverständlich können auch vor der Geburt Schäden behoben oder gelindert werden, die zu diagnostizieren sind. Aber niemals ist das Kind selbst ein Schaden.

Gezeugt, nicht gemacht

Zwecklos, aber sinnvoll ist das menschliche Dasein. Zwecklos: weil nicht einzig, ja im Entscheidenden nicht von der Zielbestimmung anderer abhängig; sinnvoll, weil in sich selbst stimmig, auch wenn niemand anderem mit diesem Leben „genutzt“ ist. Die tiefe Bestimmung des Menschen heißt Sich-Gegeben-Sein. In diesem Dasein ist niemand Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden, sondern einzigartig bis in seine Haarspitzen. Wir sind nicht „factum“, von jemandem gemacht oder wieder abgeschafft, sondern „genitum“, gezeugt. Der jüdische Ethiker Emmanuel Levinas formuliert: „Der Sohn ist nicht einfach hin mein Werk, wie ein Gedicht oder wie ein fabrizierter Gegenstand; er ist auch nicht mein Eigentum. Weder die Kategorien des Könnens noch die des Habens können das Verhältnis zum Kind anzeigen. Weder der Begriff der Ursache noch der Begriff des Eigentums erlauben es, die Tatsache der Fruchtbarkeit zu erfassen.“

Von daher verbindet sich die „Kultur des Lebens“ mit dem Gedanken des göttlichen Ursprungs eines jeden. In seinem fulminanten Josephsroman lässt Thomas Mann den Urvater Jaakob sprechen: „Denn der Zeugende ist nur Werkzeug der Schöpfung, blind, und weiß nicht, was er tut. Da wir den Joseph zeugten, die Rechte und ich, zeugten wir nicht ihn, sondern irgend etwas, und dass es Joseph wurde, das tat Gott. Zeugen ist nicht Schaffen, sondern es taucht nur Leben in Leben in blinder Lust; Er aber schafft.“

Geheimnis des Anfangs

Im Märchen vom Fundevogel trägt das Neugeborene, das der Jäger im Adlernest findet, ein Seidenhemd und eine Goldkette als Zeichen seiner Herkunft. Kinder sind Findlinge aus hohem Hause. Noch viele andere Märchen wissen das: Auch die wüsten Pelzhüllen löschen das Sternen-, Mond- und Sonnenkleid der angeblichen Küchenmagd Allerleihrauh nicht aus. Unter seiner Verkleidung hat der Mensch eine göttliche Abstammung, und er bewahrt sie wie eine kleine flackernde Flamme, trotz aller Stürme, trotz aller Abstürze. Aber woher wissen wir das? Es gibt genug Menschen, die keine Antwort auf die bohrende Frage finden: „Was ist der Sinn meines (verpfuschten, leeren, zerstörten, langweiligen) Daseins?“ Wir können es noch schärfer zuspitzen, wenn es einmal auf den Tod zugeht: Er schlägt uns ja aus der Hand, was wir sind. Aber wenn ich in das Dunkel verschwinden muss, aus dem ich offenbar einmal kam – bin ich dann nicht nur das Spiel eines Augenblicks, das Aufblitzen einer Götterlaune? ein Ausatmen der großen Weltenergie, die mich gleichmütig wieder einatmet? ein aufsprühender Tropfen, der wieder in den Ur-Ozean zurücktropft und vergeht?

Europa fragt heute materialistischer: Bin ich nur ein Element im biochemischen Kreislauf der Natur? Welcher Zufall hat mich ausgespuckt?

Versuchen wir es einmal mit dem großentworfenen biblischen Gedanken: Wir kommen aus göttlichem Anruf. Von diesem sieghaften Gewolltsein gegen alle menschlichen Zweifel weiß und spricht die Schrift. Und sie bietet nicht nur ein leerdrehendes Rad an, spricht nicht über Chemie, Physik und Biologie. Denn es ruft ein Wille, nicht einfach eine gestaltlose Urmacht oder eine dumpfe, unbewusste Allnatur. Ein ungeheurer Wille schafft mich rufend, wie ich bin, freudig, dass ich bin. Dieser Wille ist Glück, unerhörte Seligkeit. Lässt sich das beweisen?

Denken wir noch einmal an den Anfang zurück, aus dem wir so geheimnisvoll und unvorhersehbar auftauchen. Das Kind gehört in dieses Geheimnis wie die Quelle, wie der Same, wie alles vorher nicht Dagewesene, das erst winzig erscheint und dann zu einem Großen wird. Vielleicht wünschten sich Eltern ein Kind, aber wollten sie ausdrücklich dieses? Sogar an ein Wunschkind müssen sie sich gewöhnen, obwohl es doch „aus ihnen“ stammt.

Kinder sind Gaben des „göttlichen Anfangs“, Kinder der Gnade. Und so ist auch ihr Schlaf schwerelos, mühelos. „Schlafend wurden wir alle auf Flügeln über den Abgrund getragen“, sagt Hans Urs von Balthasar. Über den Abgrund, nicht zu sein. Wenn wir erwachen, sind wir schon im Leben und beginnen, uns an diesen wunderbaren Anfang zurückzutasten, oder genauer: Wir tasten uns ein Leben lang vorwärts auf den Augen-Blick zu, wo wir unseren Ursprung wiedersehen und alles verstehen.

Wie schön, wenn sich das Woher und Wohin immer mehr verdichtet – und am Ende, statt in das schwarze Loch des Nichts abzustürzen, sich die „andere Seite“ des Todes auftut: das Aufwachen durch Seinen Anruf. Wir sind ihm schon einmal gefolgt – als Er uns ins Leben rief. Videntem videre, endlich sehe ich den, der mich immer schon ansieht, sagt Augustinus. Das Dasein lebt aus der Seligkeit, gewollt zu sein – als Geschenk, grundlos „umsonst“, völlig gratis e con amore.

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