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Als Lebende über den Toten

Philippinen: Für die Friedhof-Kinder von Cebu City spielt sich das Leben am Ort der Ewigen Ruhe ab. Von Karl Horat
Friedhof-Kind von Cebu City
Foto: KH | Dieses Mädchen gehört zu den Kindern, die auf dem Friedhof spielen.

Wer Inik Zuniga erzählen hört, dass ihre Familie und all ihre Nachbarn auf dem Friedhof leben würden, vermutet erst, es handle sich um ein Verständigungsproblem. Doch wer sich mit ihr auf die „Backstreet-Tour“ der Großstadt wagt, erfährt alsbald, dass da kein Missverständnis vorliegt. Rund 50 Familien leben tatsächlich innerhalb der Friedhofsmauern in der öffentlichen Gräberanlage der Stadt. Sarkophage dienen da als Betten und Küchentische – und die Kinder spielen auf den Grabplatten, unter denen die Toten ruhen.

Cebu-City, auf einer Insel gelegen, ist wohl die am schnellsten wachsende Stadt auf den Philippinen. Fast eine Million Leute leben nun hier – doppelt so viele wie vor 25 Jahren. Im Jahre 1565 wurde hier die erste spanische Siedlung auf den Philippinen gegründet. Und Ferdinand Magellan brach von da aus auf zur ersten Weltumsegelung.

Heute boomt die Wirtschaft in Cebu. Die Vermarktung von Bodenschätzen, die Computerbranche sowie der internationale Flughafen mit seinen Touristen und Geschäftsleuten – sie spülen der wohlhabenden Elite reichlich Geld in die Kassen. Aber es liegt auch vieles im Argen auf Cebu – wie auf den ganzen Philippinen. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist immens. Zunehmend werden die Grundstücke teurer und 20 Millionen Leute leben bereits in Slums unter prekären Bedingungen. Die Ärmsten der Armen leben sogar auf Mülldeponien – oder eben auf Friedhöfen.

In den steinernen Mausoleen wie hier auf dem Carreta Cemetery finden Familien Unterschlupf, und die reichen Besitzerfamilien der Grabdenkmäler dulden dies oftmals. In der Stadtmitte von Cebu sind die Wohnungen unbezahlbar geworden: Manche der Friedhofsmenschen mussten ihre Hütten im Zentrum für Neubauprojekte räumen; andere flohen vor dem Strudel aus eskalierender Gewalt, Drogen und Prostitution – und wohnen nun als Lebende unter und über den Toten. Inik Zuniga, die alleinerziehende Mutter von vier Kindern, verdient sich ein Zubrot mit geführten Wanderungen auf die Schattenseite der Boomtown. Und wer Inik fragt, ob es sich hier denn um einen verlassenen Friedhof handle, der längst stillgelegt worden sei, wird von ihr eines Besseren belehrt. Da, wo die Friedhof-Kids leben und spielen, finden täglich Begräbnisse und Beerdigungen statt. Der Friedhof liegt keineswegs weit außerhalb der Stadt, sondern direkt neben dem geschäftigen Business-Center von Cebu-City. Inik führt die Teilnehmer ihrer Wanderung zu Osvaldo Diaz. Der Familienvater arbeitet zusammen mit seinen Kollegen dort, wo sie alle auch wohnen – auf dem Friedhof. Sie erbringen Arbeiten und Dienstleistungen, die anderswo von Bestattungsunternehmen oder der Stadtverwaltung übernommen würden.

Die ewige Ruhe währt nicht ewig auf dem Carreta-Friedhof in Cebu. Die Stadt wächst unaufhaltsam und es muss Platz geschaffen werden für neue Verstorbene. Schon nach fünf Jahren werden die sterblichen Reste vom Team um Osvaldo in ein Beinhaus, die Knochenkammer, gebracht. Im Weiteren sind alte Grabsteine abzuschleifen und sie sind mit neuen Beschriftungen zu versehen – für die neuankommenden Gäste, die hier zur Ruhe kommen.

Das geschmolzene Wachs der Kerzen, welche Trauernde vor den Erinnerungsstätten ihrer Angehörigen entzünden, kratzen die Kinder abends von den Steinen ab. Daraus werden am nächsten Tag im Zuber über dem Feuer neue Kerzen gezogen und an Friedhofbesucher verkauft. Auch Blumen und Kunstblumengebinde können am Verkaufsstand auf der geweihten Erde erworben werden. Dies ist die Haupteinnahmequelle für die meisten Bewohner da, auch für die Führerin der Friedhofbesichtigung. Diese Tour führt in Ecken und Winkel dieses Friedhofs, die einen Einblick in den Alltag der Bewohner erlauben. In den Mausoleen haben sie sich häuslich eingerichtet, mit Teppichen, Wäscheleinen und Wandbildern. Hühner picken zwischen den Grabstellen. Sanitäre Einrichtungen gibt es nicht – aber einen kleinen Laden. Trotz ihrer Armut betteln die Familien nicht. Mit Stolz und Würde wollen sie sich aus eigener Kraft helfen. Sie scheinen die desolaten Lebensbedingungen, die sie für sich hier vorfinden, zu akzeptieren und haben den Willen und die Hartnäckigkeit, unter diesen Bedingungen zu (über)leben. Schwer zu beschreiben, durch welches Wechselbad der Gefühle die Teilnehmer an diesem Rundgang gehen. Mal ist es Betroffenheit – oder blankes Entsetzen ob dem Schicksal der Menschen, die buchstäblich unter den Toten leben. Manchmal ist es auch makaber - zum Beispiel zu sehen, wie die Kinder ihre Hausaufgaben auf den Gräbern machen. Da enthalten ist aber auch ein Hoffnungsschimmer, weil es zeigt: Diese Kinder erhalten eine Schulbildung – und haben vielleicht eine Zukunft, in einer humaneren Umwelt draußen. Seltsam zu sehen, wie all die Leute scheinbar einem normalen Alltag nachgehen. Bizarr, wie ein paar Männer da auf dem Friedhof einen Nachbarschafts-Hahnenkampf austragen. Die farbenprächtigen Hähne werden hier wie Könige behandelt, jeder bewundert sie. Auf dem angrenzenden chinesischen Friedhof, dem Ludo Cemetery, sprießt sogar Gemüse zwischen den Grabplatten. Hühner picken in den Rasenfeldern nach Futter.

Bereits seit den 50er Jahren leben Menschen auf dem Friedhof: Schon ihre Mutter – erzählt Ike – sei da geboren worden. Hier sei sie aufgewachsen, hier habe sie sich verliebt und ihre Kinder zur Welt gebracht. Sie verbrachte ihr ganzes Leben hier – und eben da fand sie auch ihre letzte Ruhestätte. Seit gut zehn Jahren kümmert sich die ANCE, eine Nichtregierungsorganisation, 2006 ins Leben gerufen von Pater Max Abalos, um die Belange der Friedhofmenschen. Die Abkürzung bedeutet „Action for Nurturing Children and Environment“. Sie will die Armen und Ausgegrenzten durch Bildung und Gemeinschaftsförderung unterstützen. Vor allem die Kinder und Jugendlichen sollen eines Tages in anderen Verhältnissen leben als zwischen den Toten. Dazu müssen sie regelmäßig in den Kindergarten und in die Schule gehen. Da es schwierig wäre, diese Kinder und Jugendlichen in öffentlichen Einrichtungen unterzubringen, bringt sie den Kindergarten und den Schulunterricht einfach zu ihnen. Der Kindergarten und die Primarschule auf dem Friedhof sind bereits Realität geworden.

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