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Segen oder verhütbares Risiko?

Weil Gott ihm viele Nachkommen schenkt, stirbt Abraham nicht bloß betagt, sondern „lebenssatt“, ganz anders als wir kinderarmen Europäer. Von Stephan Baier
Babys
Foto: dpa | Das erste biblisch bezeugte Wort Gottes an sein Abbild, den Menschen, ist die Aufforderung, Kinder zu zeugen.

Kein Zweifel, der alte Abraham hatte eine Depression: „Herr, mein Herr, was willst du mir schon geben? Ich gehe doch kinderlos dahin, und Erbe meines Hauses ist Elieser aus Damaskus.“ Wie bei Gottes biblischem Bodenpersonal üblich, machte Abraham Gott Vorwürfe: „Du hast mir ja keine Nachkommen gegeben, also wird mich mein Haussklave beerben.“ Gott aber versicherte den Schwermütigen seines Segens: „Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein.“ (Gen 15,2–5)

Nicht viel besser als Abraham ging es Hanna, der Frau des Zufiters Elihus: Sie heulte im Tempel des Herrn so bitterlich, dass der Priester sie für betrunken hielt. Ein Gelübde und eine Weissagung später erfüllt Gott ihren einzigen Wunsch – und schenkt ihr einen Sohn. Daraufhin singt sie ein Jubellied, in dem bereits Motive des Magnifikat der Gottesmutter anklingen: „Mein Herz ist voll Freude über den Herrn, große Kraft gibt mir der Herr... Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder, doch die Kinderreiche welkt dahin. Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf.“ (1 Sam 2,1–6)

Es ist wahr, dass vor der Erfindung des Sozialstaates Kinderreichtum eine Frage der Alterssicherung war: Wer viele Kinder hatte, durfte darauf hoffen, im Alter nicht einsam zu verelenden, sondern umsorgt und genährt zu werden. Abrahams und Hannas Sorgen waren jedoch nicht materieller Natur. Abraham war offenkundig recht wohlhabend, und Hanna bekam von ihrem freundlichen Ehemann sogar „einen doppelten Anteil“ (1 Sam 1,5). Ihr Kinderwunsch hatte nichts mit Alterssicherung zu tun, sondern mit einem erfüllten Leben. Die Vorstellung, „kinderlos dahin“ zu gehen, stürzte beide in tiefe Verzweiflung.

Weil Gott ihm viele Nachkommen schenkt, stirbt Abraham nicht bloß betagt, sondern auch „lebenssatt“ (Gen 25,8). Weil er ihr den ersehnten Sohn schenkt, jubelt Hanna: „Gott behütet die Schritte seiner Frommen, doch die Frevler verstummen in der Finsternis.“ (1 Sam 2,9) Kinder sind mehr als eine praktische Alterssicherung und billige Arbeitskräfte, sagt uns die Heilige Schrift damit – sie sind ein Geschenk Gottes und ein wirklicher Segen!

Wo die Bibel einsetzt, vom Menschen zu sprechen, thematisiert sie nicht nur die Verwiesenheit von Mann und Frau aufeinander, sondern auch auf das Kind: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch...“ (Gen 1,27–28). Noch direkter geht es wohl nicht: Das erste biblisch bezeugte Wort Gottes an sein Abbild ist die Aufforderung, Kinder zu zeugen.

Gott habe dem Menschen „eine besondere Teilhabe an seinem schöpferischen Wirken“ verliehen, ja die Eheleute zu Mitarbeitern „der Liebe Gottes des Schöpfers“ (GS 50) gemacht, interpretierte das Zweite Vatikanische Konzil. Tatsächlich ist nicht erst im Bund mit Abraham von Nachkommen die Rede. In dem Bund, den Gott mit Noah schließt, wiederholt er den Segen des Schöpfungstages: „Seid fruchtbar, vermehrt euch und bevölkert die Erde!“ (Gen 9,1)

Doch was machen wir aufgeklärten Europäer? Wir verweigern seit Jahrzehnten den Auftrag, der mit dem Segen Gottes verbunden ist: Von Portugal bis Estland, von Irland bis Griechenland werden zu wenige Kinder gezeugt, weil zu viele verhütet werden, und zu wenige geboren, weil zu viele abgetrieben werden. Europa vergreist und schrumpft zugleich: Der Altersdurchschnitt der autochthonen Europäer steigt, ihr Anteil an der Weltbevölkerung sinkt. Zur Jahrhundertmitte werden nur mehr sieben von 100 Menschen Europäer sein, dafür 15 Chinesen und 15 Inder. Da unsere Lebenserwartung weiter steigt, werden innerhalb unserer Gesellschaften die Verteilungskämpfe explodieren: Die Kinder, die seit 50 Jahren nicht gezeugt und nicht geboren wurden, sind heute nicht auf dem Arbeitsmarkt, zahlen keine Steuern, tragen nicht zur Finanzierung unserer Pensionen bei. Wenn die letzten Babyboomer-Jahrgänge ins Rentenalter kommen, werden die Kosten für Pensionen, Gesundheit und Langzeitpflege unfinanzierbar.

Was menschheitsgeschichtlich als Segen betrachtet wurde, haben wir Europäer zum verhütbaren Risiko gemacht: Kinder. Plötzlich schienen sie nicht mehr „lebenssatt“ zu machen, sondern unser Leben einzuengen. „Aber gerade dieser wesentliche Rohstoff des Lebens – die Zeit – scheint immer knapper zu werden. Die Zeit, die wir haben, reicht kaum aus für das eigene Leben; wie sollen wir es abtreten, sie jemand anderem geben?“, fragte einst Benedikt XVI. Ihm sei, so sagte der Papst 2006, „die Frage nach Europa in die Seele gedrungen, das anscheinend kaum noch Kinder will“. Und weiter: „Für den Außenstehenden scheint es müde zu sein, ja, sich selbst von der Geschichte verabschieden zu wollen.“

Selbstverwirklichung lautete das Dogma jener Epoche, in der Kinder vom Segen zum Risiko wurden, zu einem lebensgeschichtlichen Wagnis, zu dem vielen der Mut, die Kraft, die Zeit fehlte. Als Objekt unserer Selbstverwirklichung wird das Kind verhütet oder im Reagenzglas gemacht, abgetrieben oder abgeschoben. Wie weit haben wir uns von Vater Abraham und seiner Sehnsucht entfernt!

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Benedikt XVI. Gott

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