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Gott loben als Lebensaufgabe

Musik: Die Kompositionen der Hildegard von Bingen – Zwischen klingender Vision und liturgischer Praxis. Von Barbara Stühlmeyer
Hildegard von Bingen gilt nun offiziell als Heilige
Foto: dpa | Hildegard von Bingens Werke sind heute noch Inspirationen für die Kirchenmusik.

Über Hildegard von Bingen zu schreiben ist eine echte Herausforderung. Jeder scheint sie zu kennen. Sie ist zum Label für Naturkosmetik geworden, zur Pop Ikone, zur Vorkämpferin für Umweltschutz und Frauenemanzipation und zugleich das fromme, in der Kirche verwurzelte Vorbild vieler Katholiken. Das breite Spektrum an Aussagen, die sich in ihren Werken finden, lädt dazu ein, eigene Wünsche und Vorstellungen auf sie zu projizieren. Das gilt für die breite Rezeption ebenso wie für diejenigen, die sich künstlerisch und wissenschaftlich mit ihr beschäftigen. Nicht selten atmen die Thesen, die man über Hildegards Werke und Wirken liest, den Geist einer bestimmten Lebenseinstellung und die unausgesprochene Unwilligkeit, sich von gut gepflegten Vorurteilen zu verabschieden, um dieser überaus lebendigen Frau zu begegnen. Hildegards facettenreiches Wirken findet in keiner der vielen kleinen Schubladen Platz, in die man es zu pressen versucht hat.

Verständnis für die Welt, in der sie lebte

Bei Hildegard ist die Gefahr, sich in Einzelheiten zu verlieren und dann durch Spezialisierung unter Hintanstellung der vernetzten Wirklichkeit, in der sie lebte, dachte, schrieb und komponierte zu völlig falschen Ergebnissen zu kommen besonders groß. Deshalb möchte ich hier von meiner ganz persönlichen Geschichte mit Hildegard erzählen. Denn dass die Verbindung zwischen ihrer visionärer Begabung und ihren Werken im Fokus meines Interesses stand, hat mir eine Menge Probleme bereitet. Deutschland war in den 1990er Jahren ein Land, in dem man sich als Wissenschaftlerin verdächtig machte, wenn man den Fragen des Glaubens allzu viel Gewicht beimaß. Diejenigen, die Noten zählten, genossen weit höheres Ansehen als diejenigen, die sich in das unsichere Terrain der Spiritualität wagten. Als einer der Professoren an der Musikwissenschaftlichen Fakultät mich fragte, ob ich glaubte, dass Hildegard wirklich Visionen gehabt habe und ich dies bejahte sagte er: „Wenn sie so etwas glauben, sind sie wissenschaftlich nicht qualifiziert.“ Ich war damals mit wenig Ehrfurcht gegenüber fragwürdigen Autoritäten gesegnet und habe erwidert: „Wenn Sie so etwas nicht glauben, sind sie nicht qualifiziert, eine solche Arbeit zu betreuen.“ Der Weg zur Beantwortung der Frage, in welchem Verhältnis Hildegards Visionen und ihr musikalisches Werk zueinander stehen, war also durchaus steinig, aber das, was ich unterwegs gesehen und erlebt habe, war erhellend und kann vielleicht dazu beitragen, im Umgang mit katholischen Klassikern unkonventionelle Routen einzuschlagen.

In den 1980er Jahren stieß ich in Bremen, der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, in einem Buchladen auf eine Ausgabe mit dem Titel „Hildegard von Bingen, Lieder“. Ich war sofort fasziniert. Als Kirchenmusikstudentin mit ausgeprägtem Interesse für Gregorianischen Choral war mir bewusst, wie ungewöhnlich der Band war, den ich da in den Händen hielt. 77 Gesänge und ein geistliches Singspiel, komponiert von einer Frau, veröffentlicht unter ihrem eigenen Namen – das war wirklich mehr als erstaunlich. Nach allem, was ich bis dahin über den einstimmigen liturgischen Gesang gelernt hatte, war dies ein Repertoire, das fast gänzlich ohne die Nennung der Namen von Textautoren oder Komponisten auskam, ja dessen „Heiligkeit“ sich sogar in einem gewissen Maße über jene Anonymität definierte, die den Eindruck verstärkte, es handele sich hier um Gesänge, die der Heilige Geist Papst Gregor persönlich ins Ohr gesungen hat.

Ich kaufte den Band und nahm ihn in den folgenden Jahren immer wieder in die Hand, ein noch sehr leises, aber immer präsenter werdendes Zwiegespräch fortsetzend, das sich zwischen Hildegard und mir entwickelt hatte. Ich wollte genau verstehen, wer diese Frau war, was sie bewogen hatte, ein so komplexes, vielgestaltiges Werk zu schaffen und war neugierig auf die Reaktion ihrer Zeitgenossen und der Menschen, die sich in den mehr als 800 Jahren seit ihrer Entstehung mit diesem Gesängen beschäftigt hatten. Deshalb ging ich jeden Tag in die Kirche und sang – so lange, bis ich jeden Einzelnen dieser Gesänge beherrschte. Diese Herangehensweise war damals ungewöhnlich. Viele meiner Mitstudenten an der musikwissenschaftliche Fakultät haben Noten eher gelesen als gesungen. Aber ich war nicht nur eine angehende Musikwissenschaftlerin und Theologin, sondern auch Kirchenmusikerin.

Ich las zum Erstaunen vieler jedes einzelne Werk Hildegards, was nicht leicht war, denn ihr Latein unterscheidet sich sehr von jener Sprache Ciceros, die ich in neun Gymnasialjahren erlernt hatte. Sie speiste sich offenbar aus anderen Quellen als denen der lateinischen Philosophen. Deshalb begann ich, das lateinische Stundengebet zu beten. Ich war überzeugt davon: Nur wenn ich die Texte, mit denen Hildegard Tag für Tag umgegangen war, so beherrschte, dass sie nicht nur in meinem Gehirn Spuren hinterließen, sondern auch in meiner Spiritualität, würde ich die Hinweise, die Bezüge und das netzwerkende Denken verstehen, das ihre Visionsschriften ebenso prägte wie die Texte der Gesänge, die sie komponierte.

Auf Seiten der Musiker hingegen, die Hildegards Werke sangen, gab es blinde Flecken. Denn die auf die Interpretation mittelalterlicher Musik spezialisierten Sängerinnen und Sänger maßen den Neumen, in denen sie notiert waren, keine Bedeutung bei. Sie gestalteten sie in mensuralistischer Manier, die Melismen rhythmisierend, doch keiner von ihnen konnte mir logisch nachvollziehbar erklären, warum sie gleich notierte Stellen verschieden gestalteten.

Ähnlich distanziert ist die Haltung derjenigen, die Hildegard interpretieren, was den Glauben angeht. Ihre visionäre Begabung gilt sozusagen als Mehrwert, der sich in der PR gut macht, aber mit dem Glauben an Gott und Jesus Christus wollen viele nichts zu tun haben, und sie sind auch davon überzeugt, dass sie sich um dessen Inhalte keine Gedanken machen müssen, um die Kompositionen zu verstehen. Ich persönlich finde das skurril. Natürlich kann man nicht erwarten, dass jeder, der sich mit Hildegard beschäftigt, ihren Glauben teilt. Wohl aber halte ich es für unabdingbar notwendig, sich damit zu befassen, was sie glaubte, was dies für sie bedeutete und welche Beziehung zwischen ihrer visionären Erfahrung und ihrem Werk bestand.

Visionäre Begabung nie Selbstzweck

Was Musik für sie bedeutete und warum sie für die Liturgie komponierte, hängt mit ihrer Überzeugung zusammen, dass die Menschen zum Lob Gottes berufen sind. Hildegard stellt dies am Beispiel ihrer Vision von den Chören der Engel eindrucksvoll dar. Ursprünglich, so sagt sie, gab es zehn Engelchöre, die Gottes Lob sangen und so Anteil an seinem Licht hatten. Dann aber kam ein Chorleiter namens Luzifer, was übersetzt „Lichtträger“ bedeutet, zu der Überzeugung, dass er und sein Chor ihre Schönheit und ihren Glanz sich selbst und nicht Gott verdankten. Deshalb wandten sie sich von ihm ab. In diesem Moment fiel alles Lichte und Leichte von ihnen ab und sie stürzten wie ein Klumpen Blei in die Hölle. Seitdem fehlt ein Chor im Konzert der Engel. Ihn zu bilden ist die Aufgabe der Menschen. Deshalb ist das Lob Gottes ihre ureigenste Berufung und es gibt für eine Komponistin keine schönere und wichtigere Aufgabe, als Gesänge für den Gottesdienst zu komponieren.

Hildegards visionäre Begabung war für sie nie Selbstzweck. Sie sah sich von Gott in den Dienst genommen. Deshalb war es für sie selbstverständlich, ihre Fähigkeiten einzusetzen, wenn es galt, Wunden des Leibes und der Seele zu heilen. Ihr geistliches Singspiel dient genau diesem Ziel: Mit dem Ordo Virtutum und seiner Personalisierung innerseelischer Wirkkräfte gab Hildegard ihren Schwestern die Möglichkeit, sich selbst ins Spiel zu bringen.

Das Singspiel ist aber auch ein Beitrag zur Ethikdebatte im 12. Jahrhundert. Denn Hildegard setzt mit ihrer Darstellung der geistlichen Grundhaltungen als einzuübende, vom Menschen leibhaft erfahrbare Kräfte die bislang geltende Hierarchie von Aktion und Kontemplation außer Kraft. Hildegard ist davon überzeugt: Der Mensch ist nicht nur zum Mitsingen bei den Chören der Engel eingeladen, er soll auf der Erde mitschöpferisch tätig sein. Alles Wissen über die Wege des Herrn, so könnte man die mit ihren liturgischen Kompositionen verbundene Intention zusammenfassen, mündet darin, dass wir sie gehen. Der Glaube ohne Werke ist tot. Die geistlichen Grundhaltungen stützen nur denjenigen, der sie täglich trainiert.

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Frömmigkeit Gregorianischer Gesang Hildegard von Bingen Jesus Christus Katholikinnen und Katholiken Kirchenmusiker

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