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„Wenn die Wiege des Christentums leer wird“

„Der äußere Druck bringt die Christen zu einem gemeinsamen Zeugnis“, sagt Ostkirchen-Experte Dietmar Winkler.
Mariendarstellung im Nord-Irak
Foto: KNA | Ein Sinnbild für die bedrängten und verfolgten Christen im Orient: Eine Mariendarstellung in einer verkohlten Kirche nahe Alqosh im Nord-Irak.

Herr Professor Winkler, erleben wir in unserer Generation das Verschwinden des Christentums aus den Ländern der Bibel, also aus seiner Herkunftsregion?

Wenn der Exodus so weitergeht und die politische Situation im Nahen Osten sich so weiterentwickelt wie jetzt, wird man das leider sagen müssen. Die Situation ist vor allem in Syrien und im Irak ganz negativ. In Ägypten ist es halbwegs stabil. In Israel/Palästina wurde mir jüngst gesagt, dass die Zahl der Christen stabil bleibt, aber in Relation zurückgeht, weil die Geburtenrate bei Christen geringer ist als bei Juden und Muslimen.

Dietmar Winkler
Foto: privat | Dietmar Winkler ist Professor für Patristik und Kirchengeschichte an der Universität Salzburg, Experte für Ökumene und Ostkirchen sowie Vorstandsmitglied der Stiftung „Pro Oriente“.

In fast allen Ländern der Bibel sind Christen der Marginalisierung und Diskriminierung ausgesetzt, in vielen auch der Unterdrückung und Verfolgung. Wie überleben die Christen im Orient?

Man muss das von Land zu Land beurteilen, denn die Situation ist unterschiedlich: In Jordanien haben wir keine Diskriminierung. Syrien ist im Ausnahmezustand: Die zahlreichen ausländischen Interventionen lassen das Land nicht zur Ruhe kommen. Im Irak haben wir im Norden, in Kurdistan, eine recht stabile Situation, während im Süden die Auswanderung gravierend ist. Im Libanon sind die Christen auch staatspolitisch wichtig.

Sie haben die Nahost-Synode 2010 aus der Nähe verfolgt. 2011 kam der „Arabische Frühling“, an den viele Hoffnungen knüpften. Hat dieser Frühling den Christen irgendwo Vorteile gebracht?

Ich leitete jüngst einen Dialog der Stiftung „Pro Oriente“ mit Theologen, Bischöfen und Metropoliten aus dem Nahen Osten in Wien. Da hieß es immer wieder, der Begriff „Arabischer Frühling“, der in Anlehnung an den „Prager Frühling“ 1968 aufkam, stimme einfach nicht. In Tunesien hat es funktioniert, aber in allen anderen Ländern gab es nur negative Auswirkungen.

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Immerhin konnte man sehen, dass die islamische Welt nicht monolithisch ist, weil die Jugend sehr wohl andere Lebenswelten haben wollte. Die orientalischen Christen haben das Problem, dass sie ab dem 7. Jahrhundert zu einer Minderheit geworden sind und sich daher nie so entfalten konnten wie im Westen. Also mussten sie immer eine Art „modus vivendi“ mit der jeweiligen Regierung finden, um in der gegebenen politischen Konstellation zu überleben.

Ungebrochen ist der Trend der Christen zur Emigration, wohl nicht nur wegen Diskriminierung und Verfolgung, aus Angst vor Gewalt und Terror, sondern auch wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektiven.

Welche Zukunft haben ausgebildete Leute im eingemauerten Westjordanland? Oder was machen sie im Irak, wenn sie gut ausgebildet sind, aber keine Arbeit finden? Sie suchen im Westen nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch Frieden, Stabilität und ein Gedeihen für ihre Familie, ein Umfeld, in dem Kinder aufwachsen können. Zuhause haben sie eine zerstörte Infrastruktur, Unsicherheit und teilweise Kriegssituationen.

Was bedeutet die massenhafte Abwanderung der Christen aus den Ländern der Bibel für die orientalischen Kirchen? Und was für das Bewusstsein der weltweiten Christenheit?

Wenn die Wiege des Christentums leer wird, wenn das Heilige Land zur bloß touristischen Destination wird, dann verlieren wir Christen weltweit unsere Wurzeln. Eine Pflanze ohne Wurzel wird verdorren. Es muss das Anliegen der Christenheit weltweit sein, dass in der Wiege selbst Christen leben können. Die orientalischen Christen mit ihren verschiedenen Traditionen stellen einen großen Reichtum dar: Sie zeigen, dass das Christentum stets plural gewesen ist. Es wirkt von Anfang an in die syro-aramäische, koptische (ägyptische), griechische, armenische, lateinische, indische und äthiopische Kultur hinein.

"Wenn die Wiege des Christentums leer wird,
wenn das Heilige Land zur bloß touristischen
Destination wird, dann verlieren wir
Christen weltweit unsere Wurzeln"

Das Christentum ist die Religion, die sich in allen Kulturen widerspiegeln kann. Die orientalischen Christen haben ein reiches Erbe bewahrt, das für die gesamte Christenheit wichtig ist. Wenn man nicht mehr in der Heimat präsent ist, sondern nur mehr in der Diaspora, wird dieses Erbe sich verändern. Um es pointiert zu formulieren: Entweder wird alles ganz eng und konservativ bewahrt, was eine Integration in die Gastkultur verhindert, oder es kommt die totale Assimilation, wodurch das orientalische Erbe verloren geht.

Die Emigration der Christen trifft auch die muslimische Mehrheitsgesellschaft.

Die Mehrheit der Muslime im Nahen Osten ist sich im Klaren, dass das Christentum ein wesentlicher Faktor in der Gesellschaft ist. Das sieht man im Bildungsbereich, vor allem in den Ländern, die – unter autokratischen Vorzeichen – säkular gestaltet waren, wie Syrien und Irak. Wer soll den Muslimen helfen, aus der Spirale des religiösen Fundamentalismus herauszukommen, wenn nicht die Christen? Aus dem Glauben heraus für den Nächsten da zu sein, ist eine besondere Qualität des Christseins. So können sie Salz der Erde sein.

Man hört mitunter von Seiten christlicher Emigranten, die Kirchen im Nahen Osten seien zu angepasst an die jeweiligen politischen Systeme. Ist dieser Vorwurf richtig? Ist er gerecht?

Der Vorwurf emigrierter Christen gegenüber den Kirchenführern im Orient ist insofern problematisch, weil es eine Herausforderung ist, unter den gegebenen politischen Bedingungen zu agieren. Die orientalischen Christen haben genug Märtyrer! Papst Franziskus spricht von einer „Ökumene des Blutes“. Natürlich gibt es Leute, die sich zu sehr arrangieren, aber von außen ist es leicht zu kritisieren. Es gibt aber auch den gegen uns gerichteten Vorwurf, wir seien zu naiv gegenüber dem Islam. Auch dies ist eine Vereinfachung, denn das heutige Europa hat den Vorteil, dass der säkulare Staat die Religionsfreiheit garantiert und den Religionen die Möglichkeit bietet, sich frei zu entfalten. Damit hätte der Islam erstmals die Möglichkeit, eine Religion zu sein, die nicht mit dem politischen System verbunden ist.

"Die Mehrheit der Christen im Orient
identifiziert sich als „Christen“,
und nicht über die Konfession"

Steht einer „Ökumene des Blutes“ nicht der traditionelle Konfessionalismus entgegen? Gibt es wirklich ein christliches Zusammengehörigkeitsgefühl?

Absolut. Die Mehrheit der Christen im Orient identifiziert sich als „Christen“, und nicht über die Konfession. Es sind hauptsächlich der Klerus und die Hierarchien, die sich konfessionell definieren. Im Libanon, in Syrien, Jordanien und Israel/Palästina ist ein Großteil der christlichen Ehen interkonfessionell. Deshalb gibt es mehrere pastorale Abkommen der Kirchen, um konkrete Probleme zu lösen, auch wenn es noch keine wirklich entfaltete Theologie dazu gibt. Die Märtyrer und Verfolgten sind verbunden in ihrem Zeugnis für Jesus Christus, auch wenn sie theologisch nicht miteinander in Communio stehen.

Zwischen den Konfessionen gibt es nicht nur Reibereien und Spannungen, sondern auch theologische Probleme: So wird die katholische Taufe etwa von den orthodoxen Kopten nicht anerkannt. Gibt es in dieser Frage Bewegung?

Die Päpste Franziskus und Tawadros waren 2017 nahe an einer gemeinsamen Anerkennung der Taufe, aber es gab noch aus der zweiten Reihe heftigen Widerstand, sodass in der gemeinsamen Erklärung der beiden Papste nur festgehalten wurde, dass sie „ernsthaft bestrebt sind, die Taufe nicht zu wiederholen, die in einer unserer Kirchen einer Person gespendet wurde und die sich der anderen anschließen möchte“. Sie regen überdies die Förderung eines „fruchtbaren Austauschs in der Seelsorge“ an.

Ich bin mir sicher, dass hier eine konkretere Lösung zur Taufe in absehbarer Zukunft kommen wird. Zudem hat die Eheschließung in Ägypten auch zivilrechtliche Auswirkungen. Eine gemischtkonfessionelle Ehe ist also nicht nur eine theologische Frage, sondern auch eine Frage der Demografie und der kirchlichen Präsenz. In der pastoralen Praxis gibt es dennoch immer wieder praktische Lösungen, wo Menschen guten Willens sind.

Es gibt zudem eine innerkatholische Pluralität im Orient: Wie gehen die verschiedenen katholischen Ritengemeinschaften miteinander um?

Auf der Nahost-Synode war eine große Frage, warum die armenisch-katholische Kirche nur für die armenischen, die syrisch-katholische nur für die syrischen, die Maroniten nur für die maronitischen Christen und so weiter Seelsorge machen, aber nicht stärker untereinander zusammenarbeiten. Hier hat sich aber, etwa auf dem Gebiet der Caritas, viel weiterentwickelt. Es wird vielerorts über die Grenzen der verschiedenen katholischen Kirchen und über die Konfessionsgrenzen hinaus gut zusammengearbeitet. Der äußere Druck bringt die Christen zu einem gemeinsamen Zeugnis, was ich für notwendig halte. Unter den gegebenen Bedingungen kann man sich eine Spaltung nicht leisten.

Sitzen die orientalischen Christen zwischen allen Stühlen? In ihrer Heimat sind sie der Islamisierung ausgesetzt, in der westlichen Diaspora dem Säkularismus.

Die orientalischen Christentümer haben stets mit einer je spezifischen Kultur zu tun, die armenische, die syrische, die maronitische Kultur et cetera. Im Westen droht ihnen tatsächlich der Verlust der Tradition, der Sprache und des kirchlichen Erbes – und damit der Identität. Der Westen kann aber auch eine Chance sein, weil sich diese Kirchen in säkularen Staaten mit Religions- und Gewissensfreiheit frei entfalten könnten. Dabei brauchen sie allerdings unsere Hilfe.

Da können wir auch aus der Geschichte schöpfen, denn die orientalische und die lateinische Welt waren in den vergangenen Jahrhunderten keinesfalls voneinander abgeschlossen. Es gab von der Spätantike über das Mittelalter bis in die Moderne immer wieder kulturellen Austausch und gegenseitige Befruchtung. Es gab Franziskaner und Dominikaner, die in den Orient gingen, umgekehrt orientalische Christen in Europa. So haben wir einem syrisch-orthodoxen Mönch aus Mardin im Tur Abdin die erste gedruckte syrische Bibel zu verdanken; sie wurde 1555 in Wien gedruckt. Zu seinen Schülern gehörten die ersten westlichen Syrologen.

"Was Europa politisch bringen kann,
ist ein Modell echter Gewissens- und Religionsfreiheit"

Wenn Christen in Europa und den USA sich medial und politisch für die bedrängten Christen im Orient einsetzen oder ihnen finanzielle Unterstützung zukommen lassen, bestätigt das nicht das Ressentiment vieler Muslime, die in den arabischen Christen weniger Landsleute als vielmehr Agenten des Westens sehen?

Das ist sicher ein zweischneidiges Schwert, wenn man es falsch angeht. So hat der Westen kaum aufgeheult, wenn IS-Terroristen Schiiten ermordet haben, aber wenn es um Christen ging, gab es Reaktionen. Weil ein Terrorist im Westen jedoch Aufmerksamkeit möchte, ermordet er dann Christen. Die Politik muss sich insgesamt für Religionsfreiheit einsetzen, für Jesiden, Drusen oder auch – je nach Staat – für schiitische beziehungsweise sunnitische Minderheiten.

Was Europa politisch bringen kann, ist ein Modell echter Gewissens- und Religionsfreiheit. Auch für Muslime gibt es im Orient keine Religionsfreiheit: Sie dürfen weder konvertieren noch sich dafür entscheiden, nicht zu glauben. Für die orientalischen Christen sind echte Bürgerrechte die Lösung, nicht christliche Ghettos. Das eigentliche Problem ist nicht der Islam, sondern der Fundamentalismus, der die Religion für politische Zwecke instrumentalisiert.

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