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Innere Weite in der Enge des Äußeren

In einem neuen Nachlassband zu Stefan George werden erstmals sämtliche Texte des Dichters veröffentlicht.
Stefan George
Foto: dpa | Eigenwillig: Stefan George.

Die Editions-Grundsätze für die Herausgabe schriftstellerischer Werke sind ein eigenes Kapitel, zumal wenn es sich um bedeutende Autoren handelt. Es gibt Schriftsteller, die genau festlegen, was unter ihrem Namen erscheinen soll und was nicht. Viele wollen auch über ihren Tod hinaus die Kontrolle über ihr Werk ausüben. Und scheitern damit, recht häufig jedenfalls: Wenn ein Autor eine gewisse Prominenz erreicht hat, gar berühmt und gefeiert ist, wächst das Interesse an allem, was er veröffentlich hat. Auch wenn er es gerade nicht veröffentlichen wollte, weil es den eigenen Qualitätsansprüchen nicht genügte oder einen überholten Stand des Denkens wiedergab. Ganz heikel wird es bei den Groß-Schriftstellern, die eine eigene Jüngergemeinde um sich scharen konnten, bei denen am Ende Leben und Werk zu einer schwer zu enträtselnden amorphen Masse verschmelzen. Ein Beispiel dafür bietet Stefan George (1868–1933), diese singuläre Figur in der deutschen Geisteswelt. Die sich seit dem 18. Jahrhundert anbahnende Trennung von Ethik und Ästhetik hat ihn nicht interessiert, er predigte Hingabe und wollte über die Dichtung zu direkter Aktion anregen. Kein Wunder, dass er einen Kreis von (männlichen) Verehrern um sich scharte, der Geheimbund-Charakter hatte und eigenständig Kriterien für den Zugang zum Meister, ja überhaupt zur Möglichkeit, dessen Adept zu werden, aufsetzte. Da wurde gerungen und intrigiert, verstoßen und aufgenommen. Ein Kampf um Deutungshoheit also, der auch nach dem Tod Georges weiterging, der seinerseits zur Form, in der sein Werk erscheinen sollte, sehr genaue Vorstellungen hatte.

Ein Nachlassband zu den gesammelten Werken, die in 18 Bänden im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta vorliegen, wirft neues Licht auf das Phänomen der Selbsthistorisierung, unter dem Georges Werk steht. In der Einleitung heißt es, dass der Dichter wenig Interesse gehabt hätte, Missverständnisse, sein Werk betreffend, aufzuklären: „Er selbst widerlegte diese selten öffentlich, denn Irrtümer konnten für ihn auch produktiv sein.“ Eine von George selber veranstaltete Gesamtausgabe aus den Jahren 1928–1934 – also posthum vollendet – sollte wohl in erster Linie andere Ausgaben verunmöglichen, Fremde fernhalten. Jeder einzelne der auch damals schon 18 Bände hatte allerdings seinen eigenen, zum Teil umfangreichen philologischen Anhang. „Handelnd widersprach er mit diesen Anhängen dem Gerücht seiner grundsätzlichen Ablehnung der Philologie ebenso wie jenem, dass es keine variante handschriftliche Überlieferung seiner Gedichte gebe, nicht gegeben habe, oder dass sie planmäßig der Vernichtung zugeführt sei.“

Tatsächlich fügte Stefan George den Bänden dieser „Gesamtausgabe“ sogar Faksimiles von den ersten Handschriften der Gedichte bei, zu jener Zeit noch unüblich. George ist also ein Beispiel für die Dichter und Schreiber, die die deutende Beschäftigung mit ihrem Werk durchaus zulassen, wenn sie sich das vorbehalten können, was George ganz eindeutig die „oberherrschaft“ nannte (in einem Brief an Sabine Lepsius, Bingen, 1905: „Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommenen äussern oberherrschaft“). In einem Punkt war er besonders streng, in dem er nämlich Lebenszeugnisse, wie insbesondere Briefe, nicht veröffentlicht sehen wollte. Ein ihm so Nahestehender wie sein Alleinerbe Robert Boehringer handelte dem sofort nach dem Tod des Meisters entgegen, als er einem Erinnerungsbuch faksimilierte Briefe beigab, 1938 dann den gesamten Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, in der Folge weitere, veröffentlichte. Daran lässt sich ablesen, welche Valenz hehre Anweisungen und eherne Gebote haben, nämlich keine.

Was bekommt der geneigte Leser nun im neuen Nachlassband geboten? Die aktuell maßgebliche Ausgabe der Werke Georges sind die „Sämtlichen Werke“, die seit 1983 in Stuttgart zu erscheinen begannen. Deren Herausgeber verantworten auch den vorliegenden Band und schreiben: „85 Jahre nach Georges Tod haben sich die für die Bewahrung und Verbreitung des vorliegenden publizierten Werkes und des Nachlasses Verantwortlichen zusammen mit dem Verlag Klett-Cotta entschlossen, auch jene Texte zugänglich zu machen, deren Veröffentlichung nicht der Intention des Dichters und seiner Erbengeneration entsprach.“ Es seien damit erstmals sämtliche bekannte Texte aus dem Nachlass, also Gedichte, Prosa, Dramen, Aphorismen, Übersetzungen, in einer textkritischen Edition verfügbar. Wir lesen also Frühfassungen von Gedichten, auch solche in fremden Sprachen. Schonungslos wird etwa zu Versuchen im Französischen aus den 1890er Jahren mitgeteilt, ein Freund habe George darauf aufmerksam gemacht, „dass er zum französischen Dichten nicht tauge“. Es gibt einiges an Prosa und Notizen zur Literatur, darunter: „Der ruhm eines dichters im wechsel der zeiten. Dass er einige schöne reihen gefunden hat in denen lang oder immer die menschenseele erregung + glück findet“. Aus dem Nachlass des Freundes Max Kommerell stammt das einzelschriftlich niedergelegte Wort: „das ist eben die aufgabe die weite des inneren raumes mit der enge des äussern ständig zu vereinbaren“. In der Abteilung „Aphoristisches“ finden sich, neben einigen Wiederholungen und manchem Unfertigen, auch echte Perlen. Die meisten dieser Reflexionen waren noch nicht veröffentlicht, einige von ihnen sind nur durch Fremdüberlieferung, durch Freunde nämlich, auf uns gekommen. „Sie werfen neue, andere Lichter auf George, jenen Dichter, der sich neben den anonym erschienenen ,Einleitungen und Merksprüchen‘ und den manchen Bänden vorangestellten ,Vorreden‘ nur äußerst selten zu diskursiven Äußerungen, Kunst, Politik und Gesellschaft betreffend, öffentlich äußerte.“

Dramatische Versuche der Jugendzeit lassen einen George von einer wenig bekannten Seite erleben – mehren allerdings auch nicht sehr seinen Ruhm als Schriftsteller. Auch Übersetzungen Georges, aus dem Italienischen und Norwegischen (Ibsen), sind dabei. Schließlich wird uns in einigen Faksimiles die eindrucksvolle Handschrift des Dichters vor Augen gestellt. Für die Erstbegegnung mit dem Werk Stefan Georges ist der Nachlassband ungeeignet, es ist dies auch nicht sein Sinn. Wer aber schon der Sprachkraft des Dichters erlegen ist und über das Werk orientiert ist, wird mit Interesse zu diesem Band greifen. Immer eingedenk dessen, was dieser 1915 zu Papier brachte: „Keinen lorbeer keine palmen – Will ich mehr – Liegen doch die reifen halme – Rings umher.“

Stefan George: Von Kultur und Göttern reden. Aus dem Nachlass, im Auftrag der Stefan George Stiftung hrsg. von Ute Oelmann. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 459 Seiten, ISBN 978-3-608-98152-0, EUR 48,–

Themen & Autoren
Urs Buhlmann Stefan George

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