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Eine poetisch neue Perspektive

In Sibylle Lewitscharoffs Roman "Von oben" reflektiert ein verstorbener Professor über sein Leben.
Sonnenuntergang über Berlin
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Der Himmel über Berlin kurz nach dem Sonnenuntergang.

Vor dem Tod. Nach dem Tod. Das sind zwei grundverschiedene Arten, die eigene Existenz zu erfahren und auf sie zu blicken. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin oben.“ Mit diesen Sätzen beginnt Sibylle Lewitscharoffs neues Buch „Von oben“ und setzt ein wuchtiges Zeichen, aus welcher Perspektive dieses als Roman deklarierte Werk zu lesen sei. Der Hauptprotagonist und Ich-Erzähler schwebt – hierin an den unvergesslichen Film mit Bruno Ganz als Engel erinnernd – als Geist- oder Seelenwesen zwischen der Erde und dem „Himmel über Berlin“. In rund vierzig Kapiteln reihen sich Szenen aus dem vergangenen Leben des ehemaligen Philosophie-Professors der Freien Universität Berlin in turbulent vetrudelter Reihenfolge aneinander, in die er hineinschauen kann, ohne eingreifen zu können. Das ist das Prekäre seiner Situation. Nichts was im Leben geschehen ist, kann revidiert werden.

Das absolut Tröstliche jedoch ist die von Lewitscharoff als wahr vorausgesetzte Tatsache, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Ein kurzer Blick in die Biografie der Autorin zeigt, dass dies möglicherweise nicht immer so gewesen ist. Die 1954 in Stuttgart geborene Schriftstellerin versuchte sich in ihrer Jugend als Marxistin und Trotzkistin. Zum Studium der Religionswissenschaften kam sie eher durch Zufall, wie sie einmal sagte. Allerdings hat dieses nicht zu übersehende Spuren hinterlassen, so dass Lewitscharoff heute mit ihren Romanen als „begnadete Schleusenwärterin zwischen Diesseits und Jenseits“ gilt.

Auch in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen 2012 widmete sie sich in der letzten Vorlesung unter dem Titel „Mit den Toten reden“ dem Thema, was für sie persönlich eine überaus wichtige Bedeutung hat. Und die einem Schriftsteller so oft gestellte Frage nach dem Warum seines Schreibens beantwortet sie in dieser Lesung mit der ihr eigenen Chuzpe: „Weil ich mir ein annehmlicheres Leben damit schaffe, als ich es sonst hätte. Weil es ein Vergnügen ist, in den auffangsamen Augen und Ohren eines Publikums durch einen Roman zu existieren... Weil ich durch das Schreiben die Lizenz habe, freimütig, manchmal auch übermütig, mit den Toten zu sprechen.“

Den Blick über das Irdische hinaus weiten

In einem Interview zu ihrem neuen Roman bekannte Lewitscharoff. „Es hat mich schon immer fasziniert, den Blick über das Irdische hinaus zu weiten.“

Herausgekommen ist ein höchst eigenwilliges Werk, das sich wegen einer kaum erzählbaren Handlung dem Begriff Roman nur schwer zuordnen lassen will. Es ist vielmehr ein Amalgam aus meist kurzen Aperçus in unterschiedlichen Tönen: mal humoristisch, dann wieder philosophisch hintergründig, aus Phantasterei und einer Ahnung von transzendentalen Welten. Man macht als Leser Ausflüge in höchst private Berliner Wohnungen, sitzt dabei beim Geplapper der Schickeria in Cafés und Underground-Kneipen. Das „große Larifari mit seinen vorgeblich unendlichen Möglichkeiten, die aber nicht auf den Menschen gerichtet sind“, verachtet Lewitscharoff. Und drückt dies im Roman auch deutlich aus.

Auch in ihrer Dresdner Rede (2014) hatte sie veranschaulicht, was sie von einem das Göttliche leugnenden, transzendente Wahrheiten verspottenden oder durch Sprachverhudelungen verwässernden Zeitgeist hält: „Mir ist, sowohl was das Leben anlangt als auch den eigenen Tod, die um sich greifende Blähvorstellung der Egomanen, sie seien die Schmiede ihres Schicksals, sie hätten das Schicksal in der Hand, seien gar die Herren über es, zutiefst zuwider. Das ist ein lächerlicher moderner Köhlerglaube, der einfach nicht wahrhaben will, dass wir alle eine fragile Mixtur aus unterschiedlichen Einflüssen sind, in der Familie, Biologie, Gesellschaft und Generationserfahrung eine gewaltige Rolle spielen, und es sehr schwer sein dürfte, das, was unserem ureigenen Inneren entspringt, trennscharf davon zu unterscheiden... Sich auf den Tod hinzuzubewegen, bedeutet, die Verfügungsgewalt über das eigene Leben abzugeben. Ich stelle es mir sehr schwierig vor, sterben zu müssen ohne die trostreiche Vorstellung, an einem höheren Ort, von einer höheren Gewalt erkannt zu werden. Selbst den Moment des Todes stelle ich mir glanzvoll vor, wenn darin die Summe des Lebens gezogen werden kann und so etwas aufleuchtet wie das große Warum, Wozu, Weshalb. Das geht aber nur, wenn wir in der Vorstellung gelebt haben, dereinst vielleicht huldreich empfangen, aber auch zur Verantwortung gezogen zu werden für die Sünden, die wir begangen haben. Wenn es nichts Höheres als uns selbst gibt, bleibt auch das innere Wissen um uns selbst klein, weil wir uns selbst nicht erkennen können.“ In der Tat – starker Tobak für „aufgeklärte“ Geister!

Zwischen Himmel und Erde: Warten auf Erlösung

Sibylle Lewitscharoff lässt ihren Protagonisten in „Von oben“ im Kapitel „Auf der Jakobsleiter“ von einer ganz anderen Welt träumen, die Gott einmal neu erschaffen wird: „Ein von Seiner Hand in Betrieb genommenes Füllhorn schüttet nun Schätze im parallelen Universum aus, die sich in bebenden Wortaufschwüngen aus Ihm entgeistet und im Leuchtfeuer der göttlichen Sprache flugs ihre eigene Körperlichkeit gewonnen haben. In einer durchdringend erlösenden Sprache, in eleganten Bögen und lyrischen Schleifen, von einer Herde sehr beweglicher Metaphern und einem selbstgewissen Enthusiasmus getrieben, der nicht dem tötenden Buchstaben folgt, zirkulieren die göttlichen Laute unter den Wesen, stiften Freude und Gelächter in beschwingter Dynamik.“

Aber der traurige und einsame Held der Geschichte ist in „solch gnadenreiche Höhe bisher leider nicht geraten“, hängt vielmehr immer noch über dem nahen Berliner Luftraum fest, wo er Vergangenes aus seinem Leben nacherlebt und Zeitnahes miterlebt. „Vom Axel-Springer-Hochhaus oder vom Fernsehturm am Alexanderplatz werden keine Winke ausgesandt, die anzeigen könnten, dass beim Höhersteigen die Materialität abnehmen und peu a peu einer geistigen Veredelung weichen würde“, sinniert das Geistwesen und wünschte sich flugs zurück in sein früheres wirkliches Leben, vielleicht, um manches anders, besser zu machen? Denn auf die Erlösung wartet der im Leben immer zweifelnde Professor bisher vergebens.

Im Schlusskapitel „Jede Geschichte bekommt erst von ihrem Ende her ihren Sinn“ taumelt dann auch das körperlose Ich im Zeitlosen, „kann nicht von der Sinnsuche lassen“ – „innig nach den Worten Gottes suchend“. Denn: „Erlösung heißt das Zauberwort“.

Darin besteht die Kunst dieses Romans, die Kunst im Stil der Lewitscharoff, dass dieser im Ethischen wurzelt. Denn das Wie des Erzählens entscheidet darüber, „ob darin die winzigen messianischen Sprengkapseln enthalten sind, deren die Literatur so bedürftig ist“, wie sie in ihrer Poetik-Vorlesung formulierte. Dies zu erkennen, ist auch für den Leser eine lohnenswerte Aufgabe.

Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 240 Seiten, ISBN 978-3-518-42893-1, EUR 24,–

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