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Ankommen beim göttlichen Antlitz

Von den heilig-unheimlichen Gewalten der Religionen zur Liebe, die geliebt werden will. Von Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Ikone des "Heiligen Gesichts von Laon" aus dem 13. Jahrhundert zeigt das Antlitz Jesu
Foto: IN | Die Ikone des „heiligen Gesichts von Laon“ aus dem 13. Jahrhundert zeigt das Antlitz Jesu.

Das meistgedruckte theologische Buch des 20. Jahrhunderts erschien zuerst 1917 mit dem Titel „Das Heilige“. Worauf beruhte sein Erfolg? Darin kehrte eine Welt zurück, die die Intellektuellen verblüffte. Der protestantische Autor, der Religionswissenschaftler Rudolf Otto, konnte einen erregenden Zwiespalt zeigen: Das Heilige der alten polytheistischen Religionen war tremendum et fascinans, zittern-machend und zwanghaft-anziehend. Die magischen Kulte um unheimliche Gewalten ebenso wie die Vielgötter-Mythen trennten das Göttliche nicht vom Dämonischen, das Lebensspendende nicht vom Tödlichen.

Tatsächlich zeigen sich Religion und Angst verschwistert, sind doch die naturhaft bedrängenden, unpersonalen Gewalten (Numina) eine Ballung unberechenbarer Macht: Sie sind ordnende Gewalt und gleichermaßen diabolische Zerstörung. Eben aus dieser bedrohlichen Doppeldeutigkeit steigen Angst und erstaunliche Faszination auf, denn dahinter stehen Segen und Fluch, unberechenbar gnädiges oder grausames Schicksal. „Die Götter haben das letzte Wort. Sie heben dich in die Höhe, wenn du auf der dunklen Erde liegst, sie werfen dich auf den Rücken, hast du erst einmal Fuß gefasst“, so Archilochos im 7. Jahrhundert vor Christus.

Auch die Antwort auf das Heilige ist doppeldeutig: Es ist das Opfer, das die Drohungen zähmt und sie zum Segen umwenden soll. Das lateinische Wort sanctum kommt von sancire (einzäunen) und führt in den Tempel, abgeleitet vom griechischen temnein (umgrenzen). Für das Heilig-Dämonische wird ein Bereich herausgeschnitten, in welchen es der Kult hineinbannt und zu bezwingen sucht. Macht wird also verdichtet: an heiligen Orten, zu heiligen Zeiten, in magisch besetzten Gegenständen oder Handlungen (Amulett, Totem). Denn das Heilige ist greifbar, tastbar, fühlbar – nicht einfach „geistig“. Im Unterschied dazu meint die germanische Wortwurzel heil ein Heilen, also Ganzmachen, aber auch das gehört ursprünglich dem Zauber an und hat seinen fühlbaren Preis.

Heilig-unheimlich sind solche Gewalten, und ebenso die Welt. Die animistischen Religionen erleben eine allbeseelte Welt, in der auch das Unbelebte nur „schläft“ und jederzeit erwachen kann zu Wohl und Wehe. Welt kann unmittelbar als Leib der Gottheit erfahren werden. Denn die Ursprungsmächte und das aus ihnen Hervorgehende gehören noch zusammen; sie haben in der „mütterlichen Materie“ ihren gemeinsamen Ort, mit dem sie untergehen, wiederauferstehen oder ewigen Bestand haben. Die Götter sind Dynamiken der Welt selbst, nicht jenseits der Welt. Der ausbrechende Vulkan, das tobende Meer, die Ekstase der Geschlechtsliebe lassen die Gottheit einbrechen, schrecklich-faszinierend anwesend. So gilt für die meisten Religionen eine Vielzahl weiblicher und männlicher Gewalten in unheimlich-heimlicher Gegenwart, an die man besser nicht rührt – außer im zähmenden kultischen Opfer.

Israel bringt einen religiösen Quantensprung. Denn Schöpfer und Schöpfung fallen nicht zusammen. Gott erscheint in der Welt, aber er ist nicht Donner und Blitz, der Ozean, der rasende Waldbrand, das Tödliche der Wüste. Er ist viel mehr: Urheber, der die Gestalten schaffend hervorruft, alles zu Wachstum und Entfaltung lockt. Israel spricht von Beziehung, nicht von Ineinsfall, wo die Welt Besitz und Beute des Göttlichen ist und keinen Selbststand kennt. Der Urheber öffnet sich in der Schönheit und Gewalt seiner Schöpfung, aber er überlässt sie auch sich selbst, zwingt sich nicht auf.

So trägt die Welt den Glanz Seiner Herrlichkeit, denn auf ihr ruht der Schein des göttlichen Willens, dass sie sei. Aber sie wird es häufig vorziehen, im eigenen Glanz zu leuchten. Und so kommt es, dass die Erscheinungen Gottes in der Welt ein weites Drama aufspannen: Licht und Feuer (wie an Pfingsten) sind unwiderstehliche Anzeichen. Aber auch das gänzlich Unauffällige umgibt sein Erscheinen: an erster Stelle der Zimmermannssohn selbst, den alle in Nazareth kennen (zu kennen meinen). „Wer Gott sieht, muss sterben“, weiß das Alte Testament. So kommt der Gewaltige in seine Welt häufig schwach, im Wortspiel: Er erscheint im Unscheinbaren. Es ist Kennzeichen seiner Souveränität, dass sie nicht zwingt.

Offenbarung öffnet mehr und anderes als die Religionen des Zwielichtig-Göttlichen. Die Urväter seit Abraham, die Propheten, später die „Zwölf“ erfahren den Heiligen anders. „Herr, unter den Göttern ist keiner wie du.“ Er ist der Eine, und statt des undurchsichtigen Willens der Götter verleiht er Klarheit. Bei ihm verweist das „Heilige“ wirklich auf das Heilen oder „Gänzlichen“ von etwas Zersprungenem oder Zerbrochenem. Das bedeutet eine Revolution im religiösen Bewusstsein; das Hebräische entwickelt dafür eine neue Sprache. Zum Wortfeld um Jahwe gehört vertrauen, sich trauen, sich seiner unfasslichen Wirklichkeit gegenüber vorwagen.

Noch tiefer: In Gott wird Wahrheit als Treue sichtbar. Wahrheit ist damit erstrangig keine Wahrheit der Dinge (ontologisch), auch keine Satzwahrheit oder eine Übereinstimmung zwischen Wort und Sache (Adäquation), sondern ein Verhältnis zwischen Personen (relational).

Das Vertrauen traut der Treue des anderen. Vertrauen wird zur Urgebärde zwischen Gott und Mensch. Der Treubund (berit) Gottes mit Israel stellt alle Ängste in die Helle des eindeutig und immer Guten. Allerdings: Auch Israel kennt Gott als furchtbar (tremendum), aber vor einem ganz anderen Hintergrund, nicht mehr dem Hintergrund des Unberechenbaren und Willkürlichen, sondern dem furchtbaren Schmerz der verletzten Liebe, der unbeugsamen Treue, die auf die Untreue des Volkes trifft. Es ist das Licht, das hier fordert, nicht die Bosheit, die verunsichert. Das Neue an Gott bedeutet nicht, dass er seine Stärke oder Unzugänglichkeit einbüßt – solche Gutheit ist gerade nicht „zahnlos“, sie wird durchaus als einschneidend und unnachgiebig erfahren, allerdings im Sinne einer heilsamen, über vordergründige Wünsche hinaus zielenden Umwandlung. So muss Jona, der unwillige Prophet, durch den Bauch des Walfischs hindurch lernen, dass man dem Höchsten nirgendwohin entrinnen kann. Aber die Strenge der Forderung lässt sich als Anspruch der Liebe erkennen, die geliebt werden will. Stark (und schmerzlich) wie der Tod ist solche Liebe, weiß das Hohelied. Das ist tatsächlich immer noch furchtbar, aber zugleich gut, wunderbar, stärkend.

In diese Helle des Verlässlichen, in die Erfahrung des Vertrauen-Könnens führt der Heilige: Er heilt, wirklich, lösend und in unausdenklicher Gutheit. Wenn in den Religionen der Vorzeit die Götter Licht und Finsternis in undurchdringlicher Mischung waren, so lautet die große Klärung durch Christus: „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm“ (1 Joh 1,5). Die Gewalt Gottes wird eindeutig lichthaft, sie wird im Vater, im Hirten, im Leiden Gottes, dem seine eigene Schöpfung zum Schicksalsraum wird, als Gewalt der Liebe durchsichtig.

Und die Heiligen? Auch sie wandeln sich mit dem Brennpunkt, auf den sie sich ausrichten. In den Naturreligionen zeigen sich Magier, Zauberer, Druiden, die der Bannung des Heilig-Dämonischen mächtig sind. Aber sie stehen auch in seinem Schatten, wenn sie die Eingeweide betrachten, aus dem Flüstern des Windes Drohungen heraushören, Menschenopfer vollziehen. Es treten auf die abgeklärten Weisen, die Yogis und Einsiedler, fern von den Wirren der Welt, stark in asketischer, leidensloser Entsagung. Aber ist Atmen wirklich schon Anbeten? Ist die bewundernswerte Abtötung des Schmerzes, deren die Yogis fähig sind, wirklich schon die Seligkeit einer Begegnung? Ist Nirwana wirklich dasselbe wie die verheißene Goldene Stadt?

Die Heiligen des Alten und Neuen Bundes dürfen den Unterschied zu anderen Religionen festhalten, demütig, wenn sie ihn nicht als überheblichen, sondern als aufbauenden begreifen. Sie haben den Vorteil, dass sie kein Verlöschen als Lebensziel ansehen. Ihr Ziel ist ein Antlitz, eine Person: das Antlitz des Sohnes, sein Eingehen in irdisches Unglück und seine verheißene Wendung des Ganzen in strahlendes Glück. Nichts Menschliches ist ihm fremd.

So kann es – mit anderen Religionen – ein Achten auf die Mitwelt, eine Zucht des Leibes geben, auch ein Schweigen und Wahrnehmen des von innen aufsteigenden Friedens, überhaupt eine Reinigung der Sinne vor den anbrandenden Überreizungen: Dennoch sind dies erst die Sprossen auf einer Leiter, die nicht einfach zu einer mehrdeutigen Macht, zu einem heiligen Urgrund oder ins Nichts führt, sondern zum Antlitz des lebendigen Gottes. Das übrigens gleichzeitig ein bezaubernd menschliches Antlitz ist. Wieweit solche Leitersprossen an das Geheimnis Christi heranführen, ist nicht zu bestimmen, auch keineswegs auszuschließen. Aber die Heiligen, die vom Antlitz des Einen Gottes überstrahlt sind, sind ein „Freudensprung der Natur“ (Nietzsche). Ein Sprung in die Freude, selbst geheilt zu sein und andere heilen zu dürfen.

Wie zeigt sich der Heilige heute? Die „uralten Tage“ sind vergangen, wo der Feuersturm des Geistes in Jerusalem einbrach und aus dem ratlosen Trupp einiger Männer und Frauen den Sauerteig für die Welt machte. Aber erinnern wir uns: Die Erscheinungen des Heiligen sind nicht nur machtvoll, umwerfend, sie können auch leise sein, unauffällig, ja, banal. Es kam früheren Generationen zu, aus der Finsternis des Nichtbegreifens und der menschlichen Verkennung des Göttlichen gewaltsam geweckt und ins Begreifen gestoßen zu werden. Wurde nicht einer der ersten Verfolger Christi vor Damaskus von einem Licht zu Boden geworfen, geblendet, zum Umdenken genötigt? Es kommt unserer späten Generation zu, dieses Licht anders wahrzunehmen.

In asiatischen Religionen gibt es offensichtlich eine Mystik des Verschwindens: in den Urgrund, in das All, in das Nichts, in das Verwehen. Umfassender ist die Mystik des Ankommens: beim göttlichen Antlitz. Vielleicht ist der Gedanke berauschend, nicht mehr zu sein. Herrlicher ist die Verheißung des Psalms: „Rausch kommt über sie/ Aus Deines Hauses Überfülle/ Und tränkest sie/ Im Sturzbach Deiner Seligkeit.“

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