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Wie können wir heute Gott finden?

Von der heutigen „Gottvergessenheit“ (Papst Benedikt) und „Gottesfinsternis“ (Martin Buber) hin zu einer neuen Beziehung zu Gott und Jesus Christus. Ein neues Buch von Paul Josef Kardinal Cordes. Von Maria Pelz
Foto: IN | Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott – zu jeder Zeit kann man dem Angesicht Gottes begegnen. Unser Bild zeigt das Schweißtuch der Veronika von Hans Memling, um 1470.

In unserer Kultur ist die Suche nach Gott, das Leben aus einem persönlichen Glauben an ihn, oftmals verschüttet unter einer Vielzahl anderer Themen, die das Leben bestimmen: Konsum, Gesundheit, Leistungsstreben, die Machbarkeit des Menschen, die Biologie und Medizin suggerieren, um nur einige mögliche Dinge zu nennen, tendieren dazu, den Platz einzunehmen, der der wichtigste im Menschen ist – der Platz im Herzen, den nur Gott ausfüllen kann. Martin Mosebach nennt diese „Gottesfinsternis“ „die gefährlichste Bedrohung“. Wenn das Angesicht Gottes verschwindet, dann verschwindet auch das Angesicht des Menschen, der doch sein Ebenbild ist, von Gott her sein Wesen geschenkt bekommt und sich selbst darum im Glauben erst ganz ausloten und verstehen kann. Moderne Götzen nehmen sonst den Platz ein, an dem der Mensch sich selbst erfährt und vor dem Angesicht Gottes die Entscheidungen trifft, die sein Handeln leiten. Doch wie kann man einen neuen, zeitgemäßen und wahren Zugang zum Angesicht Gottes finden?

Paul Josef Kardinal Cordes hat sich immer wieder mit dieser Frage beschäftigt. Kürzlich hat der deutsche Kurienkardinal seine Überlegungen in Buchform zugänglich gemacht: „Dein Angesicht, Gott, suche ich“, ist der Titel des Werkes, das in mehreren Anläufen versucht, diese Frage zu beantworten. Dabei schöpft der Verfasser aus einem reichen Leben, aus der Fülle der Begegnungen, die er im Zentrum der Weltkirche sowie auf seinen vielen Reisen erleben konnte, aber auch aus den unterschiedlichsten Begegnungen mit der Tradition – die Heilige Schrift, die Heiligen, innere und manchmal auch reale Gespräche mit sehr unterschiedlichen Denkern, und aus seiner gründlichen Kenntnis der Neuen Geistlichen Bewegungen, für die er in Rom unter anderem zuständig war.

Einer seiner wichtigsten „Lernhelfer“ ist dabei Kardinal Joseph Ratzinger, dessen Denken die Studien des Verfassers stark inspiriert haben. Im ersten Teil seiner Überlegungen schildert Kardinal Cordes seine Begegnung mit dem späteren Papst Benedikt aus Anlass der Bischofssynode 1980 über „Die christliche Familie in der Welt von heute“. Aus heutiger Sicht ist es sehr interessant, die Erinnerungen des Autors über diese Zeit zu lesen. Die persönlichen Begegnungen zwischen den beiden Deutschen in Rom sollten weitergehen, denn nach seinem anfänglichen Sträuben sollte der damalige Erzbischof von München zum wichtigsten Mitarbeiter von Johannes Paul II. werden und ihm später sogar nachfolgen. Kardinal Cordes schildert die Entstehung der ersten Enzyklika des deutschen Papstes und seine eigene Mitarbeit daran, in der ihm einmal mehr das Anliegen des Papstes, ein neuer „Gotteszentrismus“, klar wurde.

Von diesem biografischen Ausgangspunkt aus arbeitet Kardinal Cordes sich in der Folge in verschiedenen Denkwegen und thematischen Blöcken an seinem Thema ab. Nach einer sachkundigen Zeitdiagnose (Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Heinrich Böll, aber auch der unpersönliche Begriff Gottes in der Philosophie sowie die atheistischen „humanistischen“ Zirkel der Gegenwart) bleibt als Befund: Viele zeitgenössische Denker und in der Folge viele Zeitgenossen leben in einer Gottvergessenheit, die der Autor auch im Rückgriff auf Statistiken zu erfassen sucht. Nur zwölf Prozent der Protestanten und 16,2 Prozent der Katholiken erfahren nach dem Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung im westlichen Teil Deutschlands Gott als ein persönliches Du – ein Befund, der sicher im Jahr 2017 noch dramatischer ausfallen würde. Das ist natürlich eine verheerendes Bilanz für jeden, dem diese persönliche Gottesbegegnung die Quelle und der Mittelpunkt seines Lebens ist und ein Alarmzeichen erster Güte für die deutsche Kirche als Ganzes. Kardinal Cordes zeigt, wie diese Sorge die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt geprägt hat.

Ausgehend von diesem erschütternden demoskopischen Befund macht Kardinal Cordes sich daran, das Angesicht Gottes wieder freizulegen, und beginnt dieses Unterfangen mit einer gründlichen und sachkundigen Beschäftigung mit der Bibel als dem geoffenbarten Wort Gottes an die Menschen. Hierbei ist auffallend, wie sehr der Autor gerade die alttestamentlichen Aussagen hervorhebt, die er eben nicht als „Mythen grauer Vergangenheit“, sondern als existenziell wichtige Aussagen für jedes Zeitalter interpretiert, wie er es bei Blaise Pascal beispielhaft herausarbeitet. Das Leben Jesu muss natürlich auf dieser Folie verstanden werden, wie auch das gesamte Neue Testament nur im Lichte des Alten Testamentes gelesen werden kann.

In einem zweiten Denkweg zeigt der Verfasser an ganz unterschiedlichen Personen exemplarisch auf, wie das Angerufensein von Gott Menschenleben verändern kann, wie sie sich in dieser Begegnung entfalten können oder auch dieser Begegnung versagen können. Als Garanten eines Lebens mit Gott stellt er beispielsweise Theresa von Avila, John Henry Newman und Charles de Foucauld vor. In frischer Sprache gelingt ihm dabei ein neuer, unverstellter Blick auf diese Heiligen. Die Aporie eines Martin Luther, der ohne geistlichen Begleiter und in der Einsamkeit des autonomen Individuums meinte, endlich das Hauptanliegen des Christentums gefunden zu haben, zeigt er ebenso plausibel auf wie eine tiefe Unfähigkeit des Reformators, wirklich selbst zur Seite zu treten und neben der Gemeinschaft mit anderen Gott-Suchenden Gott selbst das Zentrum seines inneren Lebens werden zu lassen. Auf der anderen Seite scheut der Autor auch nicht die Ausein-andersetzung mit nicht-christlichen Gott-Denkern wie Johann Wolfgang von Goethe oder Nichtchristen wie Kurt Flasch, und das auf hohem Niveau und ohne diese Denker von oben herab zu behandeln. Aber was vereint die Menschen, die ihr Leben von Gott her leben? Cordes diagnostiziert eine gewisse „Selbstvergessenheit“ der Garanten für das Angerufensein von Gott: Durch die Begegnung mit dem Angesicht Gottes verlor sich jeder Selbstzentrismus, jede Vergötterung ihres eigenen Egos, ihre Existenz fand gewissermaßen einen zentralen Punkt außerhalb des eigenen Selbst: Gott. Diese Selbstvergessenheit befähigte die vorgestellten Heiligen zu einer gelebten Nächstenliebe, die wiederum nach seiner Aussage „das Fenster, durch das die Botschaft der Kirche in der Gesellschaft gelesen wird“, ist.

Der dritte große Anlauf der Gedanken von Kardinal Cordes ist darum den neuen Geistlichen Bewegungen gewidmet, die genau dieses Umdenken weg vom eigenen Ich und seiner selbstzentrierten Beliebigkeit hin zu einem neuen, überzeugten Leben aus der Kraft der Begegnung mit Gott heraus vorleben können. Wer vom Mitläufertum zu einem engagierten Glaubensleben finden möchte, kann in den neuen Glaubensschulen der verschiedenen Bewegungen Impulse für sein Leben lernen. Nach einer kurzen Einführung in das Phänomen der geistlichen Bewegungen allgemein sind es wieder charismatische Personen, die Cordes kurz, prägnant und in unverbrauchter Sprache und Perspektive vorstellt: Josef Kentenich, Josemaria Escrivá, Chiara Lubich, Luigi Giussani, Kiko Arguello, Moysés Azevedo Filho. Die meisten dieser Gründergestalten kennt der Verfasser persönlich und die Lebendigkeit und Treffsicherheit seiner Schilderungen verdankt sich sicher auch diesem Umstand.

Das Werk endet mit einem Appell an die Leser, vom gedachten und wahren Gott zum Gott ihres Lebens vorzustoßen, der in das eigene Leben als die Quelle der Liebe hineingehört, damit Menschen zu Zeugen dieses Gottes werden können, die diese Zeit so dringend braucht.

Gleich mehrere unterschiedliche Leserkreise dürften sich von Cordes‘ Überlegungen, Analysen und biografischen Studien angesprochen fühlen: Solche Leser, die die kirchliche Zeitgeschichte interessiert, sowie exegetisch Interessierte, die tiefer in die Aussagen der beiden Testamente eindringen möchten. Aber auch Menschen, die mehr über die Biografien der so unterschiedlichen Gestalten erfahren möchten, die Cordes wie in einem zeitübergreifenden Symposion nebeneinander vorstellt. Auch wer eine kurze griffige Einführung in die neuen geistlichen Bewegungen und deren Gründerfiguren sucht, wird hier fündig. Alle, die in der Glaubensweitergabe engagiert sind, finden hier zahlreiche Anregungen und Texte für ihre Arbeit. Für alle, die auf der Suche nach einer neuen Begegnung mit Gott sind, bietet dieses Buch eine Fülle von bemerkenswerten Aussagen, Überlegungen und Beispielen.

Paul Josef Kardinal Cordes: Dein

Angesicht, Gott, suche ich. Media

Maria Verlag, Illertissen 2017, 284

Seiten, ISBN-13: 978-394540-136-1,

EUR 19,95

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