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Weder Feind noch Freund

Verfassungsrechtler Horst Dreier: Der weltanschaulich neutrale Staat bevorzugt keine Religion. Von Sebastian Sasse
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Foto: dpa | Horst Dreier wurde schon als Kandidat für die rote Robe gehandelt. Die SPD hatte ihn 2008 als Richter für das Bundesverfassungsgericht nominiert.

Staat ohne Gott – der Titel, den den Verfassungsrechtler Horst Dreier für seine Studie über das Verhältnis zwischen dem modernen Verfassungsstaat und den Religionen gewählt hat, ist bewusst provokant formuliert. Denn umso stärker tritt die argumentative Pointe hervor, die Dreiers Ansatz auszeichnet: Es geht ihm nicht darum, eine Gesellschaft ohne Gott zu fordern. Ganz im Gegenteil: Allein dadurch, dass der Staat sich gegenüber allen Religionen neutral verhalte, könne die Religionsfreiheit ihre volle Wirkungskraft entfalten. Der Staat ohne Gott, so die Argumentation Dreiers, ermögliche es den einzelnen Bürgern, ihrer Religion frei nach ihren Bedürfnissen nachzugehen. „,Staat ohne Gott‘ heißt nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott“, betont Dreier. Der weltanschaulich neutrale Staat sei weder Freund noch Feind bestimmter Religionen oder Weltanschauungen, er sei eben einfach nur neutral.

Dreier, der an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht lehrt, schaut in seiner Studie aus verschiedenen Perspektiven auf die Entwicklung des säkularen Staates und auf die Rahmenbedingungen, unter denen dieser sich entfalten kann. Dabei geht der Jurist in den sechs einzelnen Kapiteln teilweise sehr ins Detail. Diese Seiten kann der interessierte Laie getrost überblättern. In der Gesamtschau bekommt der Leser aber eine Einführung in die Thematik und einen Überblick über die wichtigsten Einzelaspekte präsentiert, die auch für diejenigen aufschlussreich sind, die nicht Dreiers speziellen Ansatz teilen. Sie werden hier aber, wenn man so will, mit einer Problemgeschichte konfrontiert, in der ihnen die wichtigsten Argumentationsansätze vorgestellt werden. Das ist durchaus ein Service für Leser – ganz unabhängig davon, ob sie sich diese Ansätze selbst auch zu eigen machen wollen oder sie nutzen, um sich an ihnen abzuarbeiten und so eine eigene Position entwickeln. Daran ist auch Dreier gelegen. Dass sein Thema in einer Gesellschaft, die immer multireligiöser wird, an Relevanz zunimmt, ist augenscheinlich. Offensichtlich ist aber auch, dass dies nicht unbedingt mit einer Qualitätssteigerung der Debatte einhergeht. Dreier will ein Gegengewicht setzen. Hier steht der 64-Jährige im positiven Sinne in der Tradition der Aufklärung; er weiß um den öffentlichen Auftrag eines Professors. Wenn um die res publica, also die öffentlichen Dinge, gestritten wird, dann steht er in der Pflicht, sich zu beteiligen. Und zwar so, dass er sowohl den Bedingungen seines Faches gerecht wird, aber auch von Lesern verstanden wird, die kein Zweites juristisches Staatsexamen in der Tasche haben. Auch diesem Anspruch wird Dreier gerecht.

Wer bestimmt, was eine Religion ist

Zwei Probleme, mit denen Dreier sich auseinandersetzt, sind besonders interessant: Zunächst einmal die Frage, wie Religion überhaupt definiert wird. Denn hier steht der religiös neutrale Staat in gewisser Weise einem Paradox gegenüber: Will er Religionsfreiheit gewähren, muss er ja zuvor festlegen, was überhaupt unter einer Religion zu verstehen ist. Wenn er aber in solcher Weise das Wesen von Religion bestimmt, schränkt er dann nicht gleichzeitig die Religionsfreiheit wieder ein? Dreier weist diesen Einwand zurück und nennt drei Elemente, die eine Parteilichkeit bei der Definition verhinderten: Zunächst einmal würden die Zentralbegriffe möglichst allgemein und formal ausgelegt. Dies zeige sich etwa daran, dass die Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechtes eingestuft worden seien. Ein zweiter Aspekt: Zentral für die juristische Bewertung habe das Selbstverständnis des Gläubigen und seiner Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu sein. Erkenne dieser einen religiösen Sinnhorizont, so sei der auch gegeben. Allerdings müsse dieser religiöse Bezug plausibel sein. Leicht ließe sich diese Plausibilität aufzeigen, wenn die jeweilige Religionsgemeinschaft etwa über einen dokumentierten dogmatischen Normenbestand verfügt. Allerdings sei dabei zu beachten, dass nicht automatisch jeder Angehörige einer Religion auch alle ihre Lehrsätze teile. Schließlich sei die Grenze zwischen Religion und Weltanschauung fließend. So könne ein Bekenntnis, das vielleicht nicht den strengen Kriterien der Religionszugehörigkeit gerecht werde, doch zumindest einer Weltanschauung zugeordnet werden. Und hier gelte die gleiche Neutralitätspflicht des Staates.

An diesen Zusammenhang schließt sich ein weiteres Problem an: In welcher Weise spielt die Verfassungszuträglichkeit eine Rolle als Bewertungskriterium? Dreier ist der Meinung, dass der Staat keine Noten zu vergeben habe. Es sei nicht seine Aufgabe, wie ein Buchhalter Bilanz zu ziehen, inwieweit Religionen dem Bestand und der Entwicklung des freiheitlichen Gemeinwesens zuträglich seien – „oder ob sie ihm fremd, ja womöglich ablehnend gegenüberstehen“. Der Staat müsse vielmehr hinnehmen, dass die Entfaltung des Sinnsystems „Religion“ verschiedenartig sei und vor allem einem Selbstzweck gehorche. Religionen hätten, hier verweist Dreier auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, nicht die Aufgabe, „zur Integration der pluralistischen Gesellschaft“ beizutragen. Ein solches Ergebnis könne sich zwar ergeben, sei aber keine Voraussetzung für Religionsfreiheit. Niemand könne letztlich Christen und Juden daran hindern, ihre Religion als gesellschaftlichen Integrationsfaktor zu verstehen.

Dreier nimmt hier eine Gegenposition zu Paul Kirchhof ein. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter hatte nämlich die These aufgestellt, dass es für den Staat wesentlich sei. „ob die Kirchen zu Krieg oder zum Frieden auffordern, ob sie ihre Mitglieder einen Fanatismus oder eine Kultur des Maßes lehren, ob sie die Verfassungsprinzipien von Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaatlichkeit zurückweisen oder aber anerkennen“. Diese Kontroverse steht gewissermaßen stellvertretend für die Positionen, die sich jenseits der juristischen Gelehrtenwelt auch in der Bevölkerung zu dieser Frage gebildet haben. Wenn man so will, hat Dreier mit seiner Studie nun einen Aufschlag gemacht. Es wird spannend bleiben, wie die Auseinandersetzung weitergeht und wie Kirchhof reagieren wird.

Horst Dreier:
Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne.
C.H. Beck, München 2018, 256 Seiten, ISBN: 978-3-406-71871-7, EUR 26,95

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