Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung

Was ist Barmherzigkeit?

Eine Kirche, die Sünde Sünde nennt, handelt nicht unbarmherzig, sondern verantwortungsvoll, um im Wertechaos Orientierung zu geben. Von Weihbischof Herwig Gössl
Barmherzigkeit
| Die Werke der Barmherzigkeit, Ausschnitt, niederländischer Maler im Umkreis von Pieter Brueghel d. J. (1564–1637). Foto: Archiv

Barmherzigkeit ist heute in der Kirche wie in der Gesellschaft in aller Munde. – Schon bevor Papst Franziskus ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hatte, wurde etwa immer wieder ein barmherzigerer Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen angemahnt. Es ist ein Begriff, der stark emotional aufgeladen ist und entsprechend Stimmung verbreitet. Dies gilt insbesondere für die negative Verwendung: Wer möchte schon gerne als unbarmherzig gelten? Insofern ist es sicher hilfreich, wenn anlässlich des Heiligen Jahres nun ein besonderes Augenmerk auf diesen Kernbegriff christlichen Lebens gerichtet wird und auch manche Klarstellung erfolgt.

Was ist  überhaupt Barmherzigkeit? 

Barmherzigkeit ist zunächst im Alten und im Neuen Testament eine Aussage über Gott. Er ist der Barmherzige, übrigens eine Wesenseigenschaft, die das Zweite Vatikanische Konzil auch ausdrücklich im Gottesbild des Islam wiederfindet (vgl. LG 16; NA 3), und er erweist diese seine Barmherzigkeit gegenüber seinen Geschöpfen dadurch, dass er das Maß der Gerechtigkeit übersteigt und den Menschen ohne ihr Verdienst Gutes tut (vgl. Thomas von Aquin, STh I, q.21,a.3). Die Gleichnisse Jesu weisen immer wieder auf diese unbegreifliche Güte Gottes zumal auch gegenüber Sündern hin (vgl. Lk 10,25–37; 15,11–32; 18,9–14).

Zugleich fordert der Herr recht eindeutig von denen, die ihm nachfolgen: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36) Damit geht Barmherzigkeit auch uns Menschen direkt an, nicht nur als passive Empfänger von Gottes Barmherzigkeit, sondern, weil wir sie erfahren, auch als aktive Täter. Die Art, wie wir im Alltag Barmherzigkeit leben, entscheidet im Gericht Gottes darüber, ob wir zu Gott passen oder nicht, ob wir in seinem Reich Platz finden oder im Reich des Teufels und seiner Engel (vgl. Mt 25,31–46).

Gerade diese berühmte Rede Jesu vom Endgericht bietet auch eine Aufzählung von Werken der Barmherzigkeit, die an anderen Stellen der heiligen Schrift noch Ergänzung findet (vgl. Röm 12,9–21).

Auf dieser Grundlage wurden in der christlichen Tradition sieben leibliche und sieben geistige Werke der Barmherzigkeit herausgearbeitet, die zwar keine erschöpfende, wohl aber eine richtungsweisende Zusammenstellung bieten. In diesen Werken wird Barmherzigkeit konkret und sie wird aus dem unbestimmten Gefühlsbereich herausgehoben auf die Ebene der sichtbaren beziehungsweise wirksamen Tat.

Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit

Gemäß der Aufzählung im Katholischen Erwachsenenkatechismus (Bd. II, S. 67; vgl. Mt 25,35f.) werden folgende leibliche Werke der Barmherzigkeit unterschieden: die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden beherbergen, die Kranken besuchen, zu den Gefangenen gehen und die Toten begraben. Hierbei geht es zunächst um elementare Erfahrungen menschlicher Not. Hunger und Durst bedrohen das physische Überleben leider auch heute noch in einem unvorstellbaren Ausmaß weltweit. Die Ursachen dafür sind vielfältig, und ebenso breit gefächert sind die geforderten Methoden, systematisch dagegen vorzugehen. Entscheidend aber ist der unmittelbare menschliche Impuls, Menschen vor dem Verhungern oder Verdursten zu retten. Neben diesen Antworten auf elementare Notlagen stehen Handlungen, welche die menschliche Würde wieder herstellen: das Bedecken der Blöße und das Bestatten der Toten. Menschen haben eine Würde, die zu bewahren ein Appell an die Barmherzigkeit ist.

Gerade im Umgang mit dem verstorbenen Menschen zeigt sich menschliche Kultur und wird das Übermaß von Barmherzigkeit über die reine Berechnung von Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit deutlich. Die Fremden aufzunehmen und ihnen Heimat zu geben wird in Europa zum Beispiel zunehmend zu einer Herausforderung angesichts der Flüchtlingsströme aus den Krisenregionen der Welt. Dies bedeutet ebenso wie der Besuch bei Kranken oder auch Gefangenen die Überwindung einer sozialen Isolation. Der Fremde, der Kranke und der Gefangene: sie stehen jeweils für einen Bereich des Lebens, der uns unheimlich ist. Viele tun sich schwer damit, auf einen Fremden zuzugehen; für manche ist auch die Schwelle zu einem Krankenhaus ein Hindernis aus Scheu vor all dem Leid, das sich dahinter verbirgt; und erst recht ist ein Gefängnis eine verborgene Welt. Dabei ist für alle Menschen, die sich in derartigen Situationen aus sehr unterschiedlichen Gründen befinden, die Überwindung der sozialen Isolation so unendlich wichtig, weil sich für sie erst dadurch wieder neue Lebensperspektiven auftun.

In den leiblichen Werken wird Barmherzigkeit sehr konkret. Ich werde von der Notlage eines Menschen direkt angerührt und im Innersten aufgefordert, etwas zu tun: einen Kranken zu besuchen, einen Hilfskonvoi zu unterstützen oder in einer Kleiderkammer mitzuhelfen. Diese Hilfe fragt nicht nach Religionszugehörigkeit oder vorangegangenen Meinungsverschiedenheiten. Die Notlage spricht, ja schreit mich manchmal geradezu an, und die Barmherzigkeit lässt mich darauf reagieren – unbürokratisch und unabhängig von irgendwelchen inhaltlichen Vorbedingungen. Die gewaltige Hilfsbereitschaft angesichts von Naturkatastrophen ist ein schöner Beleg für diese urmenschliche Regung. Natürlich soll die Hilfe vernünftig sein und, wenn möglich, auch nachhaltig wirken. Doch ich begegne dem Notleidenden hier von Mensch zu Mensch, ohne irgendwelche anderen Ziele anzustreben, wie etwa die Weitergabe von Glaubensinhalten oder von moralischen Überzeugungen.

Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit

Traditionell werden genannt: die Unwissenden lehren, die Zweifelnden beraten, die Trauernden trösten, die Sünder zurechtweisen, den Beleidigern gern verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen, für die Lebenden und Verstorbenen beten. Wenn in diesen Bereichen Barmherzigkeit konkret wird, dann ist sie immer eng verknüpft mit Inhalten, bei glaubenden Menschen eben auch mit Glaubensinhalten. Meine persönlichen Überzeugungen spielen eine große Rolle, wenn ich Unwissende lehre, wenn ich Zweifelnden einen Rat gebe und wenn ich versuche, Trauernden Trost zu spenden.

Sobald ich Sünder zurechtweisen soll, muss ich wissen, was Sünde ist, und muss das auch klar benennen. Eine Barmherzigkeit, die versuchen würde, hier von Inhalten abzusehen, wäre wirkungs- und bedeutungslos. Beleidigern bereitwillig zu verzeihen und Lästige geduldig zu ertragen, das ist wahrhaftig ein Königsweg zu einem friedlichen Miteinander, aber einer, der im Innersten des Menschen feste Überzeugungen voraussetzt, eine innere Stärke, weil aus innerer Schwäche und Gleichgültigkeit niemals Vergebungsbereitschaft und Toleranz erwachsen können. Ein Gebet für Lebende und Verstorbene schließlich wäre ohne Glaubensfundament haltlos und leer.

In den geistigen Werken wird ebenfalls Barmherzigkeit konkret, aber man kann sich wohl vorstellen, dass es in diesem Bereich weit mehr Reibungspunkte gibt als bei den leiblichen Werken, ganz einfach weil die inneren Voraussetzungen der Menschen so unterschiedlich sind. Barmherzigkeit kann folglich durchaus auch wehtun, und zwar nicht nur dem, der sie übt, sondern auch dem, der sie empfängt, manchmal sogar beiden zugleich.

Eltern, die ihren Kindern Grenzen setzen und diese auch sanktionieren, handeln nicht unbarmherzig, sondern verantwortungsvoll aus ihrem Wissen heraus, das sie an ihre Kinder weitergeben wollen, damit diese auch einen guten Weg in ihr Leben finden. Eine Kirche, die Sünde Sünde nennt, handelt nicht unbarmherzig, sondern verantwortungsvoll, damit Menschen Orientierung finden im allgemeinen Wertechaos, das sie sonst oft umgibt.

Barmherzigkeit hat verschiedene Schattierungen

Barmherzigkeit hat also durchaus verschiedene Schattierungen, und das entspricht ja auch unseren Gotteserfahrungen, die vielfältig und teilweise auch widersprüchlich erscheinen. Gott, den wir als den Barmherzigen bekennen und in Gebeten häufig so ansprechen, er begegnet uns nicht nur als der große Wohltäter, der uns alle unsere Wünsche von den Augen abliest und umgehend erfüllt. Vielmehr zeigt sich seine Barmherzigkeit oft auch als Anspruch, der über das Maß der Gerechtigkeit hinausgeht und letztlich in der Liebe gründet. Gottes Barmherzigkeit ist kostbar: Sie führt seinen Sohn an das Kreuz. Ihm in seiner Barmherzigkeit konkret ähnlich zu werden kostet auch uns etwas: Zeit und Geld, manches Mal auch Gesundheit und Anerkennung.

Die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit sind Grundlage der caritativen Arbeit der Kirche. Sie scheinen auf bei den großen Hilfsorganisationen, die weltweit oder vor Ort ganz konkret den Hunger bekämpfen, sich um Flüchtlinge kümmern, Kranke pflegen, Arme in den Mittelpunkt des Interesses rücken, Bildungsarbeit leisten und auch immer wieder unermüdlich als Friedensmahner tätig sind. Sie finden ebenso Ausdruck in der Lehrtätigkeit der Kirche als Ganzer, aber sie wollen vor allem auch konkret werden im Leben jedes einzelnen Christen, ganz gleich in welchem Beruf oder Lebensstand er oder sie steht. Nie sind diese Werke etwas, worauf wir uns etwas einbilden könnten, weder als Kirche insgesamt noch als Einzelne. Immer sind sie Ausfluss der einen Barmherzigkeit, die von Gott her in die Welt strömt – denn im Grunde ist er allein der Barmherzige. Christliches Handeln ist immer Reaktion auf Gottes Aktion.

Themen & Autoren

Kirche

Die Heilsquelle der Christen betrachten: Das Kreuz steht im Mittelpunkt authentischer Kirchenreformen.
28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig