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Was geht mich das an?

Kleine Osterbiographie aus gegebenem Anlass. Von Bernhard Meuser
Foto: dpa

Man kann nicht über Ostern schreiben unter Ausschluss der eigenen Person. So habe ich mich gefreut über die Einladung, einmal „persönlich“ zu sagen, wie Ostern mein Leben verwandelt hat. Mir ist es immer als eine Urversuchung der Theologie erschienen, über Gott und die göttlichen Dinge so zu sprechen, als könne man sie aus dem eigenen Leben heraushalten, sie objektivieren und präparieren wie ein totes Tier. Der Glaube ist entweder etwas Lebendiges, Persönliches, oder er ist die Rede nicht wert. Gerade der Osterglaube geht mitten durch jede christliche Biographie. Von abstrakten Wahrheiten kann niemand leben. Es geht um die Frage: Wann wurde es hell bei mir? Wann ist das neue Leben bei mir angekommen? Wann habe ich Jesus, den Leidenden und Auferstandenen, an und in meine Biographie gelassen? Seit wann ist die Freude da? Ich könnte eine lange Osterbiographie schreiben, aber ich will mich auf wenige entscheidende Wendungen beschränken. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist nicht immer erbaulich; sie führt durch tiefe Täler, aber sie hat eine gute, für mich sogar wunderbare Wendung genommen. Es ist eine Geschichte tiefer Wunden und unverhoffter Heilung. Ich erzähle sie, weil es vielleicht manchem so geht, dass Ostern noch gar nicht oder spät bei ihm vorbeigekommen ist.

Ich gehe fünfzig Jahre zurück. Um 1968 herum war es, als ich eine frühe, damals sehr bewegende Ostererfahrung machte. Das lag an einem Pfarrer, dem die Liturgie sichtlich am Herzen lag. Ich war Ministrant, ließ mich von seiner Begeisterung anstecken. Kurz zuvor war das Konzil zu Ende gegangen und hatte einen liturgischen Aufbruch freigesetzt. Auch in unserer Gemeinde wurde die Osternacht nun in der Frühe des Ostermorgens gefeiert. Und wie! Der liturgiebewegte Pfarrer inszenierte sie im großen Stil, und das war damals ein Dorfereignis: Es setzte gewiss eine Hundertschaft von Helfern in Gang. Paramente mussten gerichtet, die Kirche musste herausgeputzt werden. Festmusik musste geprobt, mit der Schola musste geübt, das Osterfeuer aufgebaut werden. Gut dreißig Ministranten hatten eine komplexe Choreographie einzustudieren, bei der nichts schiefgehen durfte, wollte man nicht den Zorn des Pfarrers auf sich ziehen. Dank seines Temperamentes war er imstande zu predigen, dass die Kirche bebte. Dass er ein von seinen Launen besetzter Choleriker war, ließ man ihm durchgehen. Er war eben der Pfarrer. Und was er da „zauberte“, war unvorstellbar schön, eine Liturgie von archaischer Kraft. Als Ministrant war ich Teil des Gesamtkunstwerkes. Allein die Lichtregie war genial. Die Kirche in tiefes Dunkel gehüllt. Der Auszug der Ministranten zum Osterfeuer. Das Anzünden. Die Osterkerze. Lumen Christi. Die sieghafte Ausbreitung des Lichts. Gesichter im Kerzenschein. Das Exsultet. Nicht enden wollende Lesungen. Der alle Sinnen mitreißende Ausbruch von Freude beim Gloria: alle Lichter, alle Glocken an, minutenlanges Schellengebimmel, Weihrauch bis zum Abwinken, orgiastischer Jubel der Orgel. Lichterglanz und höchste Feierlichkeit. Dann das Osteralleluja in dreimal steigendem Ton ... Noch Jahrzehnte später kam ich emotional kaum damit zurecht, wenn weniger begabte Liturgen die Osternacht nach eigenem Geschmack variierten, mal das gewaltige Osterfeuer zu einer kleinen Flackerei verkommen ließen, mal das Exsultet ausließen oder durch „Halleluja, wir sind auch dabei“ ersetzten. Ich weiß noch, wie ich oft mit bösen Gedanken darauf wartete: Werden die jetzt wieder die Lesungen dezimieren? Werden die das Osteralleluja singen? In dreimal steigendem Ton? Und ich erinnere mich, wie ich meinem Ressentiment nicht Einhalt gebieten konnte, wenn ich missmutig die Osternacht verließ, weil wieder einmal Ostern nicht rite gefeiert wurde.

So tief können Kindheitserlebnisse gehen. Ich habe das heute überwunden. Ich freue mich immer noch über eine gute Liturgie, aber wenn wieder einmal das Schlimmste zu befürchten ist, berühre ich meine Frau neben mir in der Bank und wir beten für den Liturgen.
Aus dem etwas äußerlichen Osterjubel meiner Kindheit hätte etwas Organisches wachsen können. Sollte es nicht so sein? Man wird älter, versteht besser, kommt tiefer in den Glauben hinein. So spielt das Leben aber nicht. Leider gab es in meiner Geschichte einen Bruch, der mir dieses gesunde Hineinwachsen in die „Sache mit Gott“ über lange Zeiträume verbaute. Äußerlich gab ich das Bild eines gläubigen jungen Mannes ab, aber in der Tiefe meiner Seele erschien mir die vorher so bunte und reiche Welt der Liturgie und der Kirche ab einem bestimmten Punkt wie verschattet und mit Gift durchmischt. Was war geschehen? Der Priester, der Ostern so begeisternd zu inszenieren verstand, der mich förderte und eine Art Vaterersatz für mich darstellte, war ein gebrochener Charakter, der mit sich selbst nicht zu Rande kam. Es kam zu einem pädophilen Übergriff und zu angstbesetzter Abhängigkeit. Ich will nicht weiter schildern, was das menschlich, religiös und biographisch mit mir machte. Manchmal kommt man im Leben an einen Punkt, an dem man nichts mehr versteht.
Die Geschichte ist Vergangenheit, der Mann ist lange tot; ich habe ihm von ganzem Herzen verziehen, bete für ihn und sehe heute sogar das Liebenswerte an ihm. Ich erzähle sie nur, weil sie mit dem langen Weg nach Ostern zu tun hat, mit der verzweifelten Suche nach Leben und Licht, mit der Teilnahme Jesu an unserer Passion, mit Wunden, die geschlagen werden, mit Heilung und Versöhnung. Und schließlich mit der Erfahrung, dass Osterfreude auch durch härtesten Beton brechen kann. Auf die Spur brachte mich Frère Roger, der österlichste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben kennenlernen durfte. Österliche Freude brach förmlich aus ihm heraus. Wann immer ich nach Taizé kam, sprach er von einigen wenigen Dingen: vom Frieden, vom Fest, von der Auferstehung – und von den „Wunden der Kindheit“, die man Gott hinhalten solle. Das ging mich an. Ich verdrängte meine Kindheit und das Ungeheuerliche darin, wie ich nur konnte. Aber Frère Roger pries Gott: „Die offene Wunde in uns ist die Stelle, an der du, Gott, deine Liebe eingießt.“ Was sollte mir das sagen? Geh in deine Wunde und warte, dass dort Ostern wird; du wirst sehen, dass die Liebe selbst neues Leben hervorruft. Und zwar exakt an dieser Stelle. Ein Gebet von Frère Roger begann  in mir zu arbeiten: „Christus, du nimmst uns bei der Hand, damit wir von Zweifeln hinübergehen zum Vertrauen, damit wir uns ganz, mit Leib und Geist, dir hingeben, der du uns den Klang der Freude und des Festes schenkst. Für dich ist der Mensch geheiligt durch seine unschuldig in der Kindheit erlittenen Wunden.“ In und nach Taizé wagte ich erste Schritte auf einem inneren Heilungsweg. Langsam tastete ich mich an meine Kindheit heran. Ich ahnte, dass es auch für mich einen Weg in die leibliche und geistige Hingabe geben könnte, aber nur durch die Wunden meiner Kindheit hindurch. Es musste Licht an die dunkelste Stelle kommen. Vor wenigen Jahren nun machte ich bewegende Exerzitien bei einem indischen Priester und hatte bei dieser Gelegenheit ein seltsames Déjàvu mit dem lange verstorbenen Priester meiner Jugendjahre. Im Verlauf der Exerzitien musste ich meine Biografie Revue passieren lassen. Obwohl ich mich versöhnt glaubte, machte man mir deutlich, wie wichtig es sei, für den Priester zu beten. Jesus sei auch für ihn gestorben und auferstanden. Jesus wolle ihn im Leben haben. Am Abend saß ich in meinem Zimmer. Ich nahm mein Smartphone, um im Internet noch einmal nach dem Priester zu suchen. Ich hatte das schon oft versucht. Aber er war wie verschwunden, als hätte er im ganzen weiten Internet auch nicht den Hauch einer Spur hinterlassen. An diesem Abend aber machte ich Google auf – und da war er. Blickte mich an. Ein paar Tage später war die Seite wieder gelöscht, warum auch immer. Ich weiß nicht, ob andere verstehen können, dass ein einziger kurzer Moment meinen Osterglauben mit einem Strom von Licht und Wärme belebte.
Kurze Zeit später besuchte ich Colmar und stand ergriffen vor dem Auferstandenen von Matthias Grünewald. Die Wunden Christi! Ihr überirdisches Leuchten! Warum war mir das nie aufgefallen? Der Auferstandene war immer noch gezeichnet. Die Wunden waren also keine Episode. Christus hat sie (und alle Wunden) mitgenommen, geheiligt und verklärt, dass ihr Leuchten in Ewigkeit nicht verblasst, dass sie Teil der Freude sind. Ich hätte losheulen können. Mir kam die Osternacht meiner Kindheit in den Sinn, als der Priester die Kerze zur Hand nahm, die fünf Weihrauchkörner in die symbolischen Wunden versenkte und dabei die Worte sprach: „Durch seine heiligen Wunden, die leuchten in Herrlichkeit, behüte uns und bewahre uns Christus, der Herr.“ Ich hatte den verlorenen Schlüssel wiedergefunden. Ich würde Ostern nie wieder so naiv feiern wie in den Sechzigern, so oberflächlich wie in den Siebzigern, so verkopft wie in den Achtzigern, so unsicher wie in den Neunziger Jahren. Ich würde Ostern feiern im Durchgang mit Jesus durch die Todeszonen meiner Biografie; ich würde den Auferstandenen feiern in meiner zerbrochenen Kindheit. Ich würde Ostern feiern in der Freude, dass Jesus lebt, dass er stärker als alles Tödliche ist, dass er mir die Angst genommen hat und in meinem Leben ein Fest der Auferstehung existiert. Und so bete ich in ruhiger Freude und lade andere ein, dieses österliche Gebet mitzubeten: „Atem der Liebe Christi, überflute alle, die in Angst leben und durch einen täglichen Tod gehen, durchdringe unseren Geist und unseren Leib mit deiner Auferstehung. Glücklich, wer sich dem Gefährlichsten aller Wagnisse aussetzt: wer zusammen mit dir, Christus, den Osterdurchgang durchlebt. Ja, glücklich, wer dich Jesus, du unsere Freude, in deinem Todeskampf wie auch in deiner Auferstehung begleitet.“ (Frère Roger, von wem sonst).

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