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Mystische Erkenntnis unter gefärbtem Laub

Marion Poschmann ist wieder ein Roman gelungen – Reise auf den Spuren des japanischen Dichters Matsuo Bashô. Von Ilka Scheidgen

Marion Poschmann besitzt eine seltene Doppelbegabung. Sie ist genuine Lyrikerin und zugleich Prosaschriftstellerin, 1969 in Essen geboren und in Berlin lebend, ist sie mit diesem neuen Roman „Die Kieferninseln“ auf die Shortlist des deutschen Buchpreises 2017 gelangt, wie schon einmal 2013 mit ihrem Roman „Die Sonnenposition“ (DT vom 24.12.13). Nicht von ungefähr hat Poschmann eine große Anzahl bedeutender Preise in beiden Genres erhalten.

In ihrem neuen Roman verwendet Poschmann die auktoriale Erzählform, obwohl man beim Lesen die ganze Zeit das Gefühl hat, hier erzählt jemand in der Ich-Form. Das liegt wohl daran, dass der Hauptprotagonist Gilbert Silvester, obwohl es sich bei ihm um eine höchst eigenwillige Persönlichkeit handelt, einem seltsam vertraut vorkommt.

Das Geschehen wird in Gang gesetzt durch einen Traum. „Gilbert Silvester hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog.“ Und obwohl er weiß, dass es sich um einen Traum und nicht um die Wirklichkeit handelt und dass dieser Traum nur eine unmissverständliche Warnung des Unbewussten an ihn, Gilbert Silvester, war, macht er sich fluchtartig auf einen Weg, der ihn so weit wie möglich „weg von allem, mit dem er sich jemals vertraut gemacht hatte", führen sollte. Nämlich nach Japan, direkt in das ihm Unvertrauteste.

Poschmann stellt ihrem Roman „Die Kieferninseln“ ein Motto des japanischen Dichters Matsuo Bashô (1644–1694) voraus: „Willst du etwas über Kiefern wissen – geh zu den Kiefern.“ Genau das wird der Protagonist Silvester tun. Wohl nicht zufällig trägt er diesen Namen, der das Ende von etwas Altem und den Anfang von etwas Neuem beinhaltet. Dazu begibt er sich in das Unvertrauteste, das ferne Land Japan, um sich dort in der Ferne selbst in die Seele schauen zu können, um zu ergründen, was es mit diesem Neuen auf sich hat. Denn sein bisheriges Leben an der Seite seiner Ehefrau Mathilda, als Geisteswissenschaftler und Privatdozent nur mäßig erfolgreich, scheint ihn nicht auszufüllen. Seine grotesk anmutende Kurzschlusshandlung, sich mit dem erstbesten Flugzeug in eine unbekannte Welt zu begeben, ist vielleicht ebenso absurd wie sein Forschungsgebiet, nämlich die Wirkung von Bartdarstellungen: „Bartmode und Gottesbild lautete sein Themenschwerpunkt, den er je nach Tagesform als enorm ergiebig, ja elektrisierend, oder aber als vollkommen absurd und zutiefst deprimierend empfand.“

Marion Poschmann gelingt die Schilderung einer Reise quer durch Japan, hin zu den schönsten Orten auf dieser Insel, Orten von „zernagender Schönheit“, bis in den hohen Norden nach Matsushima, dem eigentlichen Ziel, der Bucht mit den Kieferninseln. Es ist eine Reise auf den Spuren des Dichters Matsuo Bashô, der diese Reise im 17. Jahrhundert zu Fuß unternommen und darüber ein Buch verfasst hatte, auch er auf den Spuren eines noch älteren klassischen Dichters, Saigyo, 500 Jahre vor Bashô.

Auf dem Weg der Mystik zu Gott finden

Gilbert Silvester, obwohl selbst ein Ritter von der traurigen Gestalt, erhält während seiner Reise einen noch traurigeren Gefährten, den Studenten Yosa Tamagotchi, der aus Prüfungsangst und der Sorge, seinen Eltern Schande zu bereiten, Selbstmord begehen will. Silvester fühlt sich fortan für den Studenten verantwortlich und setzt alles daran, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Und während die beiden zu den verschiedenen Stationen ihrer Reise unterwegs sind, vollzieht sich in Silvester fast unmerklich eine Transformation vom Getriebenen zum bewusst Reisenden, von der Oberfläche in die Tiefe. In diesen Beschreibungen begegnet man dem, worum es Marion Poschmann im Eigentlichen geht. Wie schon in ihrem Roman „Die Sonnenposition“ und in ihrem letzten Gedichtband „Geliehene Landschaften“ existiert auch in diesem neuen Roman „Die Kieferninseln“ eine Metaebene, ein Subtext, die das ganze Geschehen im Roman durchleuchten. Manchmal bringt Poschmann diese als Reflexionen in Briefen von Silvester an seine Frau Mathilda unter: „In der ostasiatischen Kultur genießt die erhabene Tiefe einen hohen Stellenwert. Das Tiefe, heißt es, ist unauffällig, es ist nicht dies und nicht das, es ist weder laut noch grell, es ist von solch ausgeglichener Zurückhaltung, dass der wenig empfindsame Mensch, zumal der aus dem Ausland, kaum Gelegenheit hat, es überhaupt zu bemerken.“ Genau diese Beschreibung könnte man auf das Verfahren Marion Poschmanns beziehen, das Tiefe, das Wesentliche eines Textes, unauffällig in eine vordergründig humoresk und unterhaltsam erscheinende Geschichte einzubauen. Weiter heißt es: „Niemals spielt es sich in den Vordergrund, aber den Hintergrund bildet es auch nicht, dazu ist es zu wichtig. Ist es etwas dazwischen, ist es bedeutend? Ist es geheim? All das ist es nicht ... Nur äußert es sich nicht in Macht und Gewalt, erlebt man es nicht in der Maßlosigkeit, nicht in Größe oder Überwältigung. So erfährt man es ... in einer Natur ohne besonderen Blickfang, in einer Landschaft der Leere und Melancholie. Doch ob Sumpf oder Gras oder Bambus am Ende den kontemplativen Gegenstand bilden, entfärbtes Laub, ein nebliges Feld oder wolkenverhangene Berge – gefragt ist letztendlich eine Geisteshaltung, die imstande ist, das Tiefe überall zu sehen. Denn es bildet, so heißt es, den Grund der Erscheinungen. Und so kommt es womöglich dem am nächsten, was in der deutschen Mystik ,der Ungrund‘ heißt.“

Poschmann treibt das Geschehen in ihrer unvergleichlich zurückhaltenden, genauen, detailreichen Prosa vorwärts, so dass man als Leser förmlich die nächste Reisestation herbeisehnt. Alles ist realitätsdurchwoben, ob es sich um die turbulente Stadt Tokyo, um Wälder oder Betonpisten, hässliche Sozial-Bauten oder das Ziegenbärtchen des lebensmüden Studenten Yosa handelt, um „durchasphaltierte Hügel“ oder die überragende Schönheit der Kiefern, die zu beschreiben Poschmann ein Äußerstes an Variabilität aufbietet, – und doch zur selben Zeit so entrückt, so zart, so wirklich und zugleich traumhaft, wie es nur einem Dichter, einer Dichterin wie Marion Poschmann gelingen kann.

Dass Silvester den von ihm behüteten Tamagotchi an der letzten Umsteigestation vor dem Ziel aus den Augen verliert und dieser auch an der Klippe vor den Kieferninseln nur als Traumgestalt auftaucht, legt die Vermutung nahe, dass es sich von vorneherein um einen Doppelgänger Gilberts gehandelt hat und er diesen nicht mehr braucht zur Spiegelung seiner selbst. Er würde Mathilda sagen, „es ist alles ganz einfach, komm zu mir nach Japan. Die Laubfärbung beginnt“. Denn: „Laubfärbung ist reine Gegenwart.“ Zu dieser Erkenntnis gelangt Silvester auf seiner Reise zu den Kiefern, auf seiner Reise ins eigene Innere und damit zu Gott, wie es in der Mystik geschieht.

Hingetuscht wie ein japanisches Rollbild ist der Roman „Die Kieferninseln“ Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn in einem.

Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 168 Seiten, EUR 20,–

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