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Der Grenzgänger

Politik: Robert Schuman – ein Leben auf der Suche nach der Versöhnung zwischen Macht, Wahrheit und Recht. Von Jürgen Liminski
Ende der Montanunion nach 50 Jahren
Foto: dpa | Ein Höhepunkt im Leben von Robert Schuman (4. v. r.): Der Vertrag zur Montanunion wird 1951 unterzeichnet.

Robert Schuman bezeichnete sich selbst als „Grenzmensch“. Das war er nicht nur geographisch. In Luxemburg, das zum Reich gehörte, 1886 geboren, wuchs er im lothringischen Metz auf, wo er auch sein Abitur machte, und studierte in Deutschland – München, Bonn, Berlin. In Straßburg schloss er das Studium der Rechtswissenschaften ab. Das Elsass gehörte damals auch noch zum deutschen Reich. Er war auch ein Grenzmensch im geistigen Sinne. Er verstand die Gefühle der Menschen und überschritt die Grenzen des Verständnisses, indem er Visionen der Gemeinsamkeit entwickelte und gegenseitige Vergebung suchte.

Diese Suche wurzelte in seinem Glauben. Auch hier überschritt er die Grenzen seiner Zeit. Als Student schloss er sich dem „Wissenschaftlichen Katholischen Studentenverband Unitas“ an. Dort fand er Freunde, Brüder im Geiste. Der Unfalltod seiner Mutter traf ihn tief, er wollte ins Kloster. Sein Freund Heinrich Eschbach riet ihm ab mit Worten, die Eduard Werner im FELS zitiert: „Dein Platz ist in der Welt! Auch dort kannst Du Gott und den Menschen dienen. In unserer Gesellschaft ist das Laienapostolat eine dringende Notwendigkeit. Die Heiligen der Zukunft tragen zivil.“ Er wurde ein Mönch der Politik und widmete fortan sein Leben dem Dienst an den Menschen und dem Gemeinwohl. Zeitlebens lebte er zölibatär. Am Ende seines Lebens schreibt er in dem autobiographischen Buch „Für Europa“: „Der Dienst an der Menschheit ist eine ebenso dringliche Pflicht wie die Treue zur Nation.“ Und wie beschwörend sein Lebensthema, die Einigung Europas, hervorhebend, sagt er mit heute ungeahnt wuchtiger Aktualität: „Europa sucht sich; es weiß, dass seine Zukunft in seinen eigenen Händen liegt. Niemals noch war es dem Ziel so nahe. Gott gebe, dass es seine Schicksalsstunde, die letzte Chance seines Heils, nicht verpasst.“

Gläubigkeit als Quelle seiner Politik

So hat man lange keinen christlichen Politiker reden gehört oder gelesen. Nun stehen die heutigen „C“-Politiker auch nicht im Ruch der Heiligkeit, eher im Ruch der Machtbesessenheit. Die Zeiten seien anders, sagt man da gern. Waren sie für Schuman besser? Er erlebte zwei infernale Weltkriege und einen kalten Frieden am Rand des Atomkriegs. Er erlebte die Diktatur in Deutschland und das Chaos der Vierten Republik in Frankreich. In diesem Chaos verkörperte er Kontinuität, fünf Jahre war er bis 1952 Außenminister in acht Kabinetten der Mitte, davor auch Ministerpräsident. Er erlebte die deutsche Tyrannei der Besatzung Frankreichs. Trotz allem blieb er seinen Überzeugungen treu. Als christlicher Abgeordneter war er 1941 von der Gestapo verhaftet worden, konnte fliehen und arbeitete in der Resistance. Der Glaube gab ihm Kraft, er ging zu den Sakramenten, regelmäßig zur Beichte und täglich in die Messe. Der Glaube war sein Fundament. Auch in der französischen Politik. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Grenzmensch Franzose geworden, weil seine Region wieder zu Frankreich gehörte. Für Elsass-Lothringen erfocht der Rechtsanwalt vor dem französischen Verfassungsgericht gegen die nun vorherrschende Laizität die Fortgeltung des Konkordats. Es wurde später erneuert und ihm verdankt „der große Osten Frankreichs“ (Ludwig XIV), dass die Kirche im Elsass und in Lothringen Kirchensteuer beziehen kann.

Einfluss und Macht waren für Schuman immer Mittel zu einem höheren Zweck. Das ist auch das Wesen der Macht. Sein Zeitgenosse Romano Guardini hat in einem Bändchen über „Die Macht“ ihr Wesen bündig beschrieben. Als das Buch erschien, war Schuman Außenminister. Von Macht im eigentlichen Sinne dürfe man nur sprechen, so Guardini, wenn ein Wille gegeben sei, der Ziele setze, sowie „ein Vermögen, welches die Kräfte auf diese Ziele hin in Bewegung bringt“. Denn „zum Wesen der Macht als eines spezifisch menschlichen Phänomens gehört die Sinngebung“. Und Guardini verkannte auch keineswegs die Gefahren der Macht, zum Beispiel „jene, welche die Macht für jenen selbst bildet, der sie gebraucht. Es gibt nichts“, so der große Denker in sicherer Absolutheit, „was die Reinheit des Charakters und die höheren Qualitäten der Seele derart in Frage stellt wie sie. Im Besitz einer Macht zu sein, die nicht durch sittliche Verantwortung bestimmt und durch Ehrfurcht vor der Person gebändigt ist, bedeutet Zerstörung des Menschlichen einfachhin.“

Starker Tobak. Denn es fallen dem heutigen Zeitgenossen ja gleich Dutzende Namen ein, die er mit dem Mangel an Ehrfurcht vor der Person in Verbindung bringt: Trump, Putin, Assad, Erdogan und überhaupt die meisten Potentaten in Nahost. Aber auch europäische und nicht wenige deutsche Politiker. Viele von ihnen missbrauchen ihre Macht, weil sie nur persönliche Ziele setzen: Profit, Reichtum, Ruhm, Ehre. Macht aber ist wesenhaft sozial. Ihr Ziel ist das Gemeinwohl und das verwirklicht sich durch die Gerechtigkeit. Deshalb ist „das Recht das Maß der Politik“, wie Benedikt XVI. schon als Kardinal Ratzinger schrieb. Diesen Sachverhalt hat Kant so ausgesprochen: „Wir haben einen heiligen Regierer, und das, was er den Menschen als heilig gegeben hat, ist das Recht der Menschen.“ An der Elle des Rechts muss sich politische Machtausübung messen lassen.

Das war die Elle des Robert Schuman. Als Jurist und Christ war es für ihn eine Elle des politischen Lebens. Ganz anders heute. Die Missachtung des Rechts ist einer der Gründe für die tiefe Krise auf dem alten Kontinent. Sie betrifft zwei sensible Bereiche – Migration und Währung –, die die Sicherheit und den Wohlstand und damit auch das demokratische Gefüge der staatlichen Ordnung gefährden. Die Staatenlenker und die EU-Kommission haben sich in der Euro- wie in der Flüchtlingskrise über die Gesetze hinweggesetzt. Niemals werde es eine Rettung von Pleitestaaten geben, niemals werde die Europäische Zentralbank das Defizit bankrotter Staaten decken. Kein Bail-out, kein Gelddrucken ohne Deckung, keine Gefährdung der Stabilität, keine Bürgschaft für Misswirtschaft – all das versprachen Brüssel, Berlin, Paris und alle anderen. Die Versprechen wurden gebrochen. Ähnlich bei der Flüchtlingskrise. Das Dublin-Abkommen wurde viele Monate lang einfach außer Kraft gesetzt. Jetzt will man es wieder beachten und ist empört, weil einige Länder sich nicht an EU-Beschlüsse zur Aufteilung von ein paar zehntausend Flüchtlingen halten wollen. Aber das Vertrauen in die Eliten ist bereits tief erschüttert. Die jüngsten Wahlen haben es gezeigt. Permanente Rechtsbrüche bleiben nicht ohne politische Folgen.

Wie hätte Schuman in dieser Situation gehandelt? Wir wissen es nicht. Er starb im September 1963 und hatte noch erlebt, wie sein Traum von der deutsch-französischen Versöhnung in Vertragsform gegossen wurde, am 23. Januar desselben Jahres unterzeichneten seine Freunde Adenauer und de Gaulle den Elysee-Vertrag. Mit ihnen hatte er um diese Aussöhnung gekämpft. Adenauer schrieb im Vorwort zu Schumans Buch (Für Europa): „Ich bin mit ihm oft bei Konferenzen und zu vertraulichen Gesprächen zusammengetroffen und habe ihn dabei kennengelernt als einen klugen und gütigen Menschen, als einen Staatsmann, als großen Franzosen und als großen Europäer – ich bin glücklich, ihn Freund nennen zu können.“ Was man sagen kann ist: Er hätte um die Einhaltung des Rechts gekämpft, für Europa, um der Einheit Europas willen.

Er hatte ein feines Gespür für die Möglichkeiten und Grenzen des Politischen. „Die Länder müssen“, schrieb er nahezu prophetisch, „unter sich etwas Gemeinschaftliches fühlen, und diese Gemeinsamkeit muss vor allem ein Mindestmaß von Vertrauen sein.“ Wort- und Rechtsbrüche zerstören Vertrauen. Vertrauen ist die Währung des Lebens. Es ist wichtiger als der Euro oder imaginäre Gefahren für die Einheit Europas. Die „wesentliche Aufgabe eines Politikers“ bestehe darin, so Schuman, „die Beziehungen zu beobachten, die einerseits zwischen den Menschen als Mitgliedern einer Gemeinschaft und andererseits zwischen den Gemeinschaften selbst existieren und auf diese Beziehungen zwecks besseren Verständnisses und Mitarbeit einzuwirken“. So könne man Europa aufbauen, auf Beziehungen des Vertrauens.

Dieses Vertrauen wollte Schuman in Europa zunächst mit dem Ende der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich und mit seinem Plan schaffen, die Kohle- und Stahlproduktion der beiden Länder in einer Montanunion zu vergemeinschaften. Am 9. Mai 1950 veröffentlichte er nach langen Beratungen vor allem mit Jean Monnet seine historische Erklärung für die Neukonstruktion Europas. Die Montanunion sollte später zu einer politischen Föderation Europas führen. Am 18. April 1951 wurde der Montanvertrag in Paris unterzeichnet. Aber seine Idee einer Europäischen Gemeinschaft war zuviel für die Franzosen, er verlor die Zustimmung und musste 1952 sein Amt niederlegen.

Mann der Wahrheit, Mann des Rechts

Schuman arbeitete weiter an einem christlich geprägten Europa. Dazu gehörte für ihn die Achtung der Person. Die Personalität des Menschen, eine genuin christliche Idee, fand ihren Niederschlag in der Straßburger Konvention für Menschenrechte, die Schuman maßgeblich mitgestaltete und die 1955 von 26 europäischen Staaten unterzeichnet wurde. In dieser Konvention ist der einzelne Mensch Subjekt des Völkerrechts. Eine Person kann gegen einen Staat klagen, das gibt es sonst nirgends in internationalen Verträgen.

1958 wurde der „Vater Europas“ zum ersten Präsidenten des ersten Europäischen Parlaments gewählt. Aber dieses Parlament ging nicht aus direkten Wahlen hervor, seine Abgeordneten waren nur ernannt oder kamen aus Nationalparlamenten. Dieses Parlament war kein Pfeiler der Gewaltenteilung. Noch heute wiegt es die technokratische und ideologische Willkür, die von der EU-Kommission ausgeht, nicht wirklich auf. Wenn das Volk der Souverän ist, dann sind seine Repräsentanten und die Öffentlichkeit der Ort, an dem das Gleichgewicht der Macht in Balance gehalten wird. Aber woran soll sich diese vierte Gewalt ausrichten? Das Kriterium ist die Wahrheit. Der Verzicht auf sie macht den Kern der neuzeitlichen Krise aus, mahnte Ratzinger schon in den siebziger Jahren. Mann der Wahrheit, Mann des Rechts, Grenzmensch der Versöhnung – das war Robert Schuman. Die Akten seiner Seligsprechung liegen in Rom.

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