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Wahrer der Einheit

Der Dogmatiker Gerhard Kardinal Müller vollendet am Silvestertag das 70. Lebensjahr. Von Karl-Heinz Menke
Kardinal Gerhard Ludwig Müller beim 10. Semperopernball 2015 in Dresden
Foto: KNA | Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat sich als Theologe und Bischof schwierigen Debatten gestellt.

Das katholische Milieu, in dem Kardinal Müller seine Kindheit verbringen durfte, existiert nicht mehr. Die für die Vorkonzilszeit typische Prägung durch die Ministranten- und Jugendarbeit lebendiger Pfarrgemeinden gibt es nur noch vereinzelt. Wenn Müller in seiner jüngsten Monografie an seine Kindheit, an seine Schul- und Studienzeit zurückdenkt und von hervorragenden Lehrern, Kaplänen und Pfarrern erzählt, verbindet sich Dankbarkeit mit einer gewissen Wehmut. Allerdings würde man ihn völlig verkennen, würde man ihn deshalb als einen rückwärts gewandten Nostalgiker und Zukunftspessimisten bezeichnen. Im Gegenteil: Kardinal Müller lebt aus einem tiefen Grundvertrauen. Eine seiner offensichtlichsten Eigenschaften ist der Mainzer Humor. Er ist im besten Sinne dieses Wortes „unaufgeregt“. Und er weiß die Aufgeregtheiten anderer einzuordnen und an den Erfahrungen einer zweitausendjährigen Kirchengeschichte zu messen. Seine intellektuelle Begabung stellt die meisten seiner Gesprächspartner ebenso in den Schatten wie seine Körpergröße. Aber er lässt seine Überlegenheit nur dann spüren, wenn ihm mit Arroganz gepaarte Inkompetenz begegnet.

Die in einschlägigen Medien übliche Charakterisierung des Kardinals als „Betonkopf“ passt so gar nicht zu seiner Fähigkeit, auch da differenziert zu urteilen, wo andere dem Schwarz-Weiß-Denken huldigen – ob in Bezug auf den Missbrauchsskandal, die Limburg-Affäre oder die sogenannte Amoris-laetitia-Debatte. Was ihn vor allem auszeichnet, ist eine unbestechliche Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wo andere Bischöfe sich weggeduckt haben, hat er Rückgrat bewiesen und sich gegen voreilige Verurteilungen gewandt. Wer ihn in die rechte Schublade packen will, sollte berücksichtigen, dass er als deutscher Professor seine Semesterferien regelmäßig in den Elendsvierteln von Peru verbracht hat und bis heute eng befreundet ist mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez. Er sieht auf dem rechten Auge genauso scharf wie auf dem linken. Die Klarheit, mit der er von der „Pius-Bruderschaft“ die Anerkennung aller Dokumente des Zweiten Vatikanums verlangt, lässt nichts zu wünschen übrig.

Müller war als Bischof von Regensburg zugleich Vorsitzender der Ökumene-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz. Eine seiner jüngsten Monografien trägt den bezeichnenden Titel: Einheit in der Wahrheit. Perspektiven für die Zukunft der Ökumene. Schon seine Promotionsschrift über das sakramentale Denken des protestantischen Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer lässt erkennen, wie sehr dem Autor daran gelegen ist, die konfessionelle Spaltung der Christenheit zu überwinden. Bonhoeffer erklärt das Verstehen der in Christus ergangenen Offenbarung als Integration des je einzelnen Gläubigen in die Gemeinde. Eine seiner Grundformeln lautet „Christus als Gemeinde existierend“. Mit diesem Axiom kommt er der katholischen Beschreibung der Kirche als Sakrament sehr nahe.

Man darf vermuten, dass Bonhoeffer auch das Thema von Müllers Habilitationsschrift bestimmt hat: Gemeinschaft und Verehrung der Heiligen. Denn die erste Buchveröffentlichung des von den Nazis hingerichteten Bekenners trägt den Titel: Sanctorum Communio. Wieder geht es um die Untrennbarkeit des Christentums nicht nur von Christus, sondern auch von der Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern. Müller sieht in dem Glaubensartikel von der Gemeinschaft der Heiligen eine Basis der Konvergenz von katholischer und protestantischer Ekklesiologie. Denn ursprünglich ist mit dem Axiom „sanctorum communio“ die „Anteilhabe aller Getauften an den Heilsgaben Christi“ gemeint und erst sekundär die daraus entstehende Gemeinschaft der Gläubigen. Wer die Kirche als Gemeinschaft oder Volk Gottes vom Leib Christi her versteht, trennt die irdische nicht von der vollendeten Kirche. Er verehrt die Heiligen, weil die vertikale Inkarnation des göttlichen Logos in der Heiligkeit erlöster Menschen anschaulich wird.

Müller lehnt eine Ökumene ab, welche die Einheit auf einer unsichtbaren – beziehungsweise eschatologischen – Ebene ansiedelt und die konfessionellen Differenzen als gottgewollte Spielarten des Christentums verharmlost. Da die Wahrheit in Christus Fleisch angenommen hat, darf sie nicht zu einer Idee verflüchtigt werden. In einem Sammelwerk mit dem Titel „Mit der Kirche denken“ gibt Kardinal Müller seiner Überzeugung Ausdruck, dass das gemeinsam gebetete Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel hinreichender Grund für die Hoffnung auf die Wiedererlangung der Bekenntniseinheit ist. Aber diese Einheit – so unterstreicht er – ist zuerst die Frucht einer auf allen Seiten intensivierten Bekehrung zu Christus.

Als Ordinarius für Dogmatik (1986–2002) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München von Papst Johannes Paul II. 2002 zum Bischof von Regensburg ernannt, hat Müller den Titel des römischen Lehrschreibens „Dominus Iesus“ zu seinem Wahl- und Wappenspruch erwählt. Das ist kein Zufall. Wenn ich aufgefordert würde, ein einziges Wort über die mehr als fünfhundert Publikationen von Kardinal Müller zu setzen, dann würde ich das Wort „Inkarnation“ wählen. Wiederholt erklärt er die Formel „Jesus ist der auferweckte Herr und Christus“ zum Prüfstein des christlichen Glaubens. In Abgrenzung von einer Exegese, die den Jesus der Geschichte vom Christus des Glaubens trennt, in Absetzung auch von den Jesulogien einer religionsgeschichtlich, psychologisch oder feministisch verzweckten Jesulogie gründet er die eigene Theologie auf „die christologische Ursynthese“.

Im Vorfeld der Seligsprechung von John Henry Kardinal Newman hat sich der Bischof von Regensburg die Zeit abgerungen, den großen englischen Konvertiten und Vordenker „in die Gegenwart zu holen“. Dessen ganzes Leben stand unter der Prämisse, dass die in Christus erschienene Wahrheit den Gläubigen zu sich selbst befreit. Das jedem Menschen geschenkte Gewissen ist – so sagt er – wie eine Antenne, die immer schon ausgerichtet ist auf das Vernehmen des göttlichen Logos. Wenn das Gewissen nicht fehlgeleitet oder durch Sünde zum Schweigen gebracht wird, ist es fähig, wahrhaft gültige von nur faktisch ergehenden Ansprüchen zu unterscheiden. Und wer Jesus als den Christus glaubt, bindet sein Gewissen an die Wahrheit, die von der Kirche gelebt und bezeugt wird. Kardinal Müller weiß: Die Schärfe der Analyse, die Stringenz der Argumente, der Mut zur These, Kontroversen und Dispute gehören zu einer im guten Sinne kritischen Theologie. Aber wo ein Theologe meint, die Kirche müsse sich geirrt haben, weil er ihr Dogma nicht versteht, da hat er das Verhältnis von Theologie und Kirche in deren Gegenteil verkehrt. Ein guter Theologe beißt sich an dem, was die Kirche für verbindlich erklärt, die Zähne aus, statt das Dogma am eigenen Verstehen zu messen. Kardinal Müller gehört zu den wenigen Theologen, die auch unter Inkaufnahme heftiger Anfeindungen die Klarstellungen von Papst Johannes Paul II. in Bezug auf die Zulassung der Frau zum Sakrament des Ordo verteidigen. Seine Monografien zum Dogma von der jungfräulichen Empfängnis, seine Abhandlungen zur Mariologie und seine Arbeiten zum Themenfeld „Zulassung der Frau zum Sakrament des Ordo“ bestechen durch ihre umsichtige Berücksichtigung aller greifbaren Quellen und aller gegenteilig argumentierenden Positionen.

Müllers Handbuch mit dem schlichten Titel „Katholische Dogmatik“ – inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt – ist nicht nur deshalb so erfolgreich, weil es einen Gesamtentwurf der Dogmatik wagt. Unzählige Studenten in vielen Ländern greifen nach diesem Buch, weil sie verlässlich und klar informiert werden wollen. Müller charakterisiert mit einem klaren Blick für das Wesentliche alle wichtigen Positionen der protestantischen und katholischen Theologiegeschichte. Und er bezieht Stellung, indem er umsichtig begründet, warum diese oder jene Lehrmeinung nicht mit dem Glauben der Kirche übereinstimmt. Wer meint, in Müllers Handbuch würden nur Fakten oder Lehrsätze ausgebreitet, hat sein Werk nicht gelesen. Dem Verfasser geht es nicht um das bloße Lernen von Inhalten, sondern um deren verstehende Aneignung. Der Primat des Christusereignisses schließt, so betont er, eine transzendentalphilosophisch ansetzende Theologie nicht aus. Im Gegenteil, Müller will seine Leser ermutigen, nichts einfach hinzunehmen, sondern sich durch fortschreitendes Fragen und Argumentieren von der Wahrheit der geglaubten Inhalte zu überzeugen.

Wer Kardinal Müller kennt, weiß, dass er sehr lange liest und prüft, bevor er ein Urteil fällt; und dass er stets zwischen Aussageabsicht und Wortlaut zu unterscheiden versteht. Er weiß um den Abstand zwischen Begriff und Wirklichkeit. Denn er ist ein betender Theologe. Er lebt aus der täglichen Eucharistie. Seine in einem stattlichen Band gesammelten Regensburger Ansprachen und Predigten, seine „Meditationen zur Passions- und Osterzeit“ oder sein viel gelesenes Buch mit dem Titel „Lasst uns mit IHM gehen. Eucharistiefeier als Weggemeinschaft“ sind Dokumente einer Theologie, die aus der Kommunikation mit Christus und aus einer tiefen (weil inkarnierten) Liebe zur Kirche gespeist wird.

In verschiedenen Abhandlungen hat Kardinal Müller seine geistige Verwandtschaft mit dem Denken des emeritierten Papstes Benedikt XVI. erklärt. Er hat das Institut gegründet, welches das weit gestreute Schrifttum von Joseph Ratzinger in einer Kritischen Gesamtausgabe zugänglich macht. Staunend steht man vor der gewaltigen Arbeits- und Denkleistung eines der ganz großen Theologen unserer Zeit. Unter der Präsidentschaft von Kardinal Müller ist das Regensburger Papst-Benedikt-Institut zu einer weltweit gefragten Adresse für Doktoranden und Habilitanden geworden.

Der 2016 erschienene Interview-Band mit dem Titel „Botschaft der Hoffnung“ erklärt Müllers Bemühen, in einer oftmals polarisierten, von religiös, kulturell, politisch, sozial oder ökonomisch bedingten Spannungen gezeichneten Welt die Einheit zu wahren. Eben darin hat er seine Aufgabe als Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation gesehen. Es gibt keinen ersichtlichen Grund für seine Abberufung nach nur fünf Jahren. Liebe zur Kirche und Loyalität gegenüber dem Papst sind die Markenzeichen seines Dienens. Mit herzlichen Segenswünschen zu seinem 70. Geburtstag verbindet sich aufrichtiger Dank für die von ihm gelebte Synthese von Theologie und Frömmigkeit, von Klarheit und Tiefe, von Mut und Loyalität.

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