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Die entfachte Glut

Vor zehn Jahren veröffentlichte Papst Benedikt das Motu proprio „Summorum pontificum“ – Wie die „alte Messe“ die Pfarrei erreichte. Von Guido Rodheudt
Pontifikalamt in der Abteikirche Rolduc
Foto: Düren | Liturgie als Gesamtkunstwerk erlebt die Gemeinde in der außerordentlichen Form des römischen Ritus. Die Aufnahme zeigt ein Pontifikalamt in der Abteikirche Rolduc.

Es hatte etwas Unwirkliches, als am Abend des 7. Juli 2007 ein Mitbruder mit dem Text des Motu proprio „Summorum pontificum“ unter dem Arm zu mir kam. Wir staunten nicht schlecht, welche Möglichkeiten sich dort für alle auftaten, die bislang unter der jahrzehntelangen Stigmatisierung der sogenannten Tridentinischen Liturgie gelitten hatten. Denn man hatte uns lange genug nahegelegt, die Beschäftigung, Wertschätzung und natürlich besonders die eigene Praxis der traditionellen lateinischen Liturgie als etwas zutiefst Verbotenes zu empfinden. Und als etwas, das – bedingt durch eben diese faktische Verbotslage – niemals mehr auch nur im Ansatz so etwas wie eine Praxis wiedererlangen könnte. Darüber hinaus geriet das ganze Thema im Lauf der Zeit mehr und mehr zu etwas Musealem. Man hatte dafür gesorgt, dass die „alte Messe“ nur noch in Büchern zu finden war. Oder in den zu kleinen Gottesdiensträumen umgebauten Garagen und Hinterzimmern der Piusbrüder oder – nach dem Indult von 1984 und dessen mit höchsten Einschränkungen versehenen offiziellen Zelebrationsmöglichkeiten – in den Kapellen von Krankenhäusern oder Altenheimen. Dort hatten die mittlerweile „straffreien“ Besuche der „alten Messe“ den Charakter einer liturgischen Notdurft. Die Flamme wurde klein gehalten.

Nun schien nicht nur der Spielraum der liturgischen Praxis durch die päpstliche Verfügung erweitert zu sein, es war auch ganz allgemein ein Fenster zum freieren Umgang mit der Tradition der Liturgie des Westens aufgetan. Aus der eisern unter Verschluss gehaltenen Glut schlug plötzlich eine Flamme hoch. Der einzelne Priester wurde über Nacht in die Lage versetzt, den alten Ritus – wo immer und wann immer er möchte – zu zelebrieren und dazu Gläubige zuzulassen. Der Papst hatte damit ein über sein Pontifikat hinausreichendes rechtliches Instrument geschaffen, das die Sichtbarkeit der alten Liturgie unabhängig von allen gleichermaßen administrativen wie subjektiven Knebelungen gewährleisten sollte.

Auf diesem Weg erreichte die alte Liturgie auch meine Pfarrei am Nordrand von Aachen, eine „normale“ Gemeinde mit drei Kirchen, drei Kindergärten, einem Jugendzentrum, einer breit angelegten kirchenmusikalischen Landschaft und einer in Form der Herzogenrather Montagsgespräche seit vierzehn Jahren überregional gut besuchten Vortragsreihe im Rahmen der Erwachsenenbildung und allem, was sonst in einer Pfarrei wichtig und wesentlich ist.

Ich selbst hatte die „alte Messe“ schon immer geschätzt, weswegen auch meine Zelebration der „Neuen Messe“ vom Geist der Tradition geprägt war und ist. Latein und die gemeinsame Gebetsrichtung hatten hier in Herzogenrath auch in der „neuen Messe“ schon vor dem Motu proprio eine Heimat. Also lud ich im Sommer 2007 die Gläubigen meiner Pfarrei ein, die Wiederzulassung der klassischen römischen Liturgie nicht als ein Zurück in die Zeit vor dem Konzil zu verstehen, sondern – ganz im Gegenteil – als einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Liturgie am Beginn des Zweiten Jahrtausends. Die praktische Feier der „alten Messe“ sollte dazu verhelfen, die Wesensmomente der Liturgie – Heiligkeit und Objektivität – neu zu entdecken.

Ich kündigte ab dem ersten Advent jeweils montags und samstags eine Heilige Messe im klassischen römischen Ritus an – als Ergänzung des liturgischen Wochenprogramms. Dies wurde unter jungen Leuten vorbehaltlos akzeptiert, weil für sie aufgrund ihres Lebensalters eine Retrospektive ausgeschlossen war. Skepsis und teils irrationale Vorbehalte gab es hier und da bei den Angehörigen der älteren Generation, für die mit der Präsenz der „alten Messe“ ihre Erinnerungen an strenge Lehrer und Priester ihrer Jugendzeit in der Adenauerära hochkamen. Insgesamt gestaltete sich dieser Prozess der Vorbereitung jedoch sehr entspannt und offen.

Es sollte die „Missa cantata“ die Regelform der Zelebration sein, denn es schien mir auf dem Hintergrund des grundsätzlichen Anliegens einer neuen Liturgischen Bewegung unerlässlich, die Liturgie zum Klingen zu bringen und zwar – nicht zuletzt nach dem Willen des Zweiten Vatikanischen Konzils – durch den Gesang des Gregorianischen Chorals.

In Herzogenrath ist es seither Praxis, dass das Proprium gesungen wird. Ein plagiathaftes Liedersingen im Stil der vorkonziliaren deutschen Bet-Sing-Messe gibt es nicht. Dies würde der Absicht des Motu proprio, das Schatzhaus der traditionellen Liturgie für möglichst viele aufzuschließen, nicht gerecht. Der „Gregorianische Ritus“ lebt schließlich ganz und gar aus dem Gesang, dessen Beschneidung in der „stillen Messe“ eigentlich nur der Ausnahmefall ist. Dank der partiellen Verwendung vereinfachter Melodien aus den „Chants Abrégés“ von Solesmes kann der Cantus Gregorianus zweimal in der Woche vollständig ermöglicht werden. Die Gläubigen erhalten zum Mitvollzug der Liturgie ein Heftchen mit dem Ordo Missae und einigen Choralmessen. Zum Verständnis der Tagestexte gibt es zusätzlich für die Hand der Gläubigen einen Zettel, auf dem einige grundsätzliche Hinweise zur Mitfeier – insbesondere zur Art und Weise des Kommunionempfangs – und Übersetzungen der Texte sowie Erläuterungen zur aktuellen Tagesliturgie aufgeführt sind.

Circa hundert Personen sind im Interessentenkreis der traditionellen Messe in meiner Pfarrei. Davon zählen wir im Schnitt dreißig bis vierzig Teilnehmer pro Messe. Der Kreis setzt sich zusammen aus Pfarrangehörigen und auswärtigen Gläubigen. Dazu kommen unverbindlich Interessierte, von denen manche auf Dauer bleiben. Die soziale und intellektuelle Schichtung ist recht ausgewogen. Die numinose Gestalt der Liturgie, ihre Eindeutigkeit, was die Haltung der Anbetung betrifft, die Stille und die Objektivität des Ritus lässt eine Formensprache entstehen, die den Oberarzt neben der Analphabetin aus Sibirien, den Großvater neben der Enkelin und die Malerin neben dem Mitarbeiter des städtischen Bauhofs in einer gemeinsamen Gebetshaltung vereint. Auch das äußere Erscheinungsbild der Gläubigen ist vielfältig. Keineswegs findet sich dort eine mennonitenhaft einheitsgewandete Kommunität von selbsternannten Erleuchteten, sondern es ist eine bunte Ansammlung jeder nur denkbaren Rocklänge und Frisurenform. Interessant ist dabei, dass auch immer wieder Gläubige mit evangelikalem Hintergrund in der „alten Messe“ ihre Heimat finden.

Dank einer gründlichen Vorbereitungs- und Aufklärungsarbeit im Vorfeld und durch eine, alle Unkenrufe und Diskreditierungsversuche seitens des kirchlichen Establishments ertragenden Beständigkeit, erlebt die Praxis der „alten Messe“ eine solide Akzeptanz in der Pfarrgemeinde.

Die Befreiung des alten Ritus aus seiner jahrzehntelangen Verbannung und Stigmatisierung hat die traditionelle Liturgie im Empfinden der Gläubigen meiner Pfarrei aus dem Kontext kirchenpolitischer Positionsbestimmungen befreit. Man ist eben nicht mehr automatisch Lefebvrist, wenn man die „Alte Messe“ besucht. Die „alte Messe“ ist fester Bestandteil des sakramentalen und liturgischen Lebens meiner Pfarrei. Sie ist weder Nostalgie noch Museumsstück. Und sie ist eben keine alte Messe! In ihr lebt der Atem der Jahrhunderte und sie bringt das unmissverständlich zu uns, was die Apostel und die Alte Kirche als kultische Erfüllung des Gebotes Christi im Abendmahlssaal verstanden haben. Jenseits allen Streites und aller Strategien hat die „Alte Messe“ ihre stille aber tiefe Wirkung entfaltet. Einfach dadurch, dass sie da ist. Der Geist der alten Liturgie kann nicht propagandistisch vermarktet werden. Er braucht Zeit, Stille und Konsequenz. Die „alte Messe“ hat, besonders durch ihre feierlicher Form der Zelebration und durch die unaufgeregte Beständigkeit ihres Daseins als archaischer Zeuge dessen, was Liturgie vor, während und nach dem Zweiten Vatikanum nach dem Willen der Kirche war und ist, das Ghetto verlassen. Sie ist wieder da und sie wird da bleiben. Weil sie die Herzen von Priestern und Gläubigen berührt und auf eine besondere Weise zu Gott führt.

Der Autor, geboren 1964, ist seit 2000 Gemeindepfarrer in Herzogenrath. Zuletzt erschien von ihm und Maximilian Thallmair: Von der Anwesenheit des Verborgenen. Der Schatz der römischen Messe. Dominus-Verlag, Augsburg 2017. 120 Seiten. Zahlreiche farbige Abbildungen. Paperback. ISBN 978-3-940879-51-6, EUR 9,90

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