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Edith Sitwell - Verborgene Konvertitin

Die britische Dichterin Edith Sitwell wird oft als Exzentrikerin verspottet; dabei stand die Konvertitin nur über dem Massengeschmack. Von Gerhild Heyder
Dichterin Edith Sitwell
Foto: theredlist.com

Da kommt sie – ,ein großer vom Wind gezauster Vogel‘, gut ein Meter achtzig groß, überschlank, in fließendem Samt, bauschende Brokate oder sanfte, dunkle Wolle gehüllt, nicht a la mode gewandet, sondern nach ihrem eigenen Kopf – diesem Kopf eines exotischen Raubvogels mit dem ,Schnabel einer Harpyie‘ und der hohen Stirn über den tiefliegenden, kühl-melancholischen Plantagenet-Augen, die gekrönt wird von phantastischem Federschmuck, die langen Hände mit den silbern oder perlmutten gelackten Fingernägeln und die schmalen Handgelenke beschwert von riesigen Ringen und Reifen ... Es ist Edith Sitwell, Dame of the British Empire in höherem Alter, die große englische Lyrikerin, Essayistin und Exzentrikerin.“

Diese bildhafte Beschreibung Edith Sitwells verdanken wir ihrer Übersetzerin Kyra Stromberg, und genauso tritt uns die heute fast vergessene Dichterin aus den berühmten Porträts Cecil Beatons und Roger Frys entgegen. Hinter der exzentrischen Erscheinung verbirgt sich aber eine leidenschaftliche Dichterin, deren ungewöhnliches und sprachgewaltiges Werk das Wiederentdecken lohnt – immerhin galt sie 1950 neben Winston Churchill als Anwärterin für den Literaturnobelpreis.

Die unwillkommene Erstgeborene – der noch zwei innig geliebte, literarisch ebenso begabte Brüder folgen sollten (die beiden anderen Sterne des Dreigestirns) – eines reichen Gutsbesitzers aus altadeligem Geschlecht, 1887 auf dem Stammsitz der Familie im nordenglischen Scarborough zur Welt gekommen, entwickelt früh einen ausgeprägten Eigensinn. „Ich war eine Enttäuschung. (…) In dieser Hinsicht wie in jeder anderen erfüllte ich die in mich gesetzten Erwartungen nicht.“ (Mein exzentrisches Leben)

Die Eltern überließen ihre Kinder sich selbst und Davis, dem Kindermädchen. Edith empfand die Umgebung ihrer Kindheit als eine Art Hölle: geistige Strangulation, Unterdrückung aller Neigungen und Talente, körperliche und psychische Leiden durch eine verfehlte Behandlung ihres schwachen Rückens (das Mädchen wird in ein Stahlkorsett – ihre „Bastille“ – gesperrt, das eine lebenslange Schädigung verursacht). „Ich besitze kein körperliches Leben mit Ausnahme zweier meiner Sinne – Hören und Sehen.“

Soviel wird sie später von sich preisgeben – wenn es stimmt, hat sie zumindest diese beiden Sinne ausgiebig genutzt. Von weiteren sinnlichen Wahrnehmungen erfährt man tatsächlich nichts, sollte es zutreffen, dass sie Zeit ihres Lebens unter der unerwiderten Liebe zu dem russischen Maler Pawel Tschelitschew („dieses tragischen, von Visionen heimgesuchten und noblen Malers – einer der großzügigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe“) schmerzlich gelitten hat, spricht sie nicht davon. Schmerz und Melancholie drücken sich poetisch aus, in düsteren Naturgleichnissen. Das Kind liest. Vor allem die Lyrik Baudelaires und Rimbauds sowie die Neuerungen der Modernisten. Swinburne beeindruckt sie zutiefst. Potenzielle Ehekandidaten weist die junge Frau, die so gar nicht dem herrschenden Schönheitsideal entsprechen will, gekonnt ab.

Ihr poetisches Talent gedeiht, allen Widerständen und Entmutigungen zum Trotz. Kurz vor dem ersten Weltkrieg kann sie, begleitet von ihrer Gesellschafterin und lebenslangen Freundin Helen Rootham, nach London ziehen, finanziell eher dürftig ausgestattet, aber endlich frei.

Mit 26 Jahren bricht sich die lang aufgestaute Kreativität Bahn. Ihr erstes Gedicht, The Downed Suns, veröffentlicht sie 1913 im Daily Mirror, 1915 erscheint der Band The Mother and Other Poems und zwischen 1916 und 1921 gibt sie zusammen mit Aldous Huxley die jährlich erscheinende Anthologie Wheels heraus. Gemeinsam mit ihren Brüdern Osbert und Sacheverell bildet Edith den Dichterclub „Die Sitwells“. Ihre Absicht, die englische Lyrik von den romantisierenden Einflüssen der spätviktorianisch-edwardianischen Dichtung zu befreien, zeigt sich besonders deutlich in der von William Walton vertonten Sammlung Façade (1922). Stark beeinflusst zu jener Zeit von Strawinskys Musik gelingt es Edith Sitwell in den spielerisch-experimentellen Gedichten auf brillante Weise, die Rhythmen populärer Tänze nachzuahmen, so in Waltz: „Daisy and Lily,/ Lazy and silly,/ Walk by the shore of the wan grassy sea, –/ Talking once more 'neath a swan-bosomed tree“ („Daisy und Lily,/ Lässig und willig,/ Wandeln am Ufer/ Das Meer bleich wie Gras,/ Verhandeln beim Baum mit dem Schwanenhals was.“).

Die Verabsolutierung des Rhythmus zum formalen Prinzip und der Klang der Worte, beeinflusst vom Jazz, erwiesen sich als zukunftsweisend für die moderne englische Lyrik. Rhythmik gepaart mit modernistisch anmutenden Bildelementen und Allusionen auf die klassische Mythologie kennzeichnen Edith Sitwells frühe Gedichte, wobei die Komik eine nicht unwesentliche Rolle spielt. 1924 erscheint der Gedichtzyklus The Sleeping Beauty mit dem Märchenmotiv von Dornröschen, in dem sie wieder zu einem eher romantisch-elegischen Tonfall zurückfindet. Wort- und bildgewaltig sprengen hingegen die Rhythmen in Gold Coast Customs (1929), einer Sammlung von Einzeltexten, die den Rückfall der Zivilisation in die Barbarei gestalten, den gewohnten Rahmen – die Anspielungen auf das biblische Feuer von Gomorrha und die Kontrastierung der Londoner Slums mit den Partys der Lady Bamburgher deuten an, dass die Bilder des Grauens eigentlich die europäische Zivilisation am Ende der zwanziger Jahre meinen.

In den dreißiger Jahren verstummt die poetische Stimme Edith Sitwells, dafür schreibt sie die bis heute lesenswerte Essaysammlung Englische Exzentriker (1933), denen sich Dame Edith durchaus zugehörig fühlte, zumal in ihrer höchst eigenwilligen Definition des „Exzentrikertums“: „Es handelt sich dabei nicht, wie uns sinnenstumpfe Menschen glauben machen wollen, um eine Form der Verrücktheit, wohl aber oft um eine Form unschuldigen Stolzes. Das Genie gilt wie der Aristokrat häufig als Exzentriker, weil einer wie der andere weder Furcht vor der Meinung und den wechselnden Modelaunen der Masse hat, noch sich davon beeinflussen lässt.“ Das britische Königreich scheint prädestiniert dafür zu sein, Exzentriker hervorzubringen, und Edith Sitwell ist vielen Exemplaren dieser Gattung begegnet, von gleich zu gleich. Sie verfasst eine Biografie über Alexander Pope (1930) sowie einen Roman über Jonathan Swift: I Live under a Black Sun (1937).

Erst Anfang der vierziger Jahre tritt sie wieder mit Gedichten an die Öffentlichkeit, geprägt von den Schrecken und der Düsternis der Kriegsjahre, aber auch von lebensbedrohlichen Zukunftsvisionen, so in Serenade und Three Poems of the Atomic Age.

„Still falls the Rain –/ Dark as the world of man, black as our loss –/ Blind as the nineteen hundred and forty nails/ Upon the Cross“ („Still fällt der Regen/ Finster wie die Welt des Menschen,/ Schwarz wie unser Verlust,/ Blind wie die neunzehnhundertvierzig Nägel am Kreuz.“) 1940 Nägel, im Kriegsjahr, die erneute Kreuzigung Jesu.

Ein tiefes menschliches Mitgefühl verbirgt sich unter der experimentellen Oberfläche ihres poetischen Werks, das seine Bildsprache nicht nur den Modernisten und Imagisten verdankt, sondern auch der Bibel. Die Beschäftigung mit christlichen Themen muss nicht explizit erwähnt werden bei europäischen Dichtern ihrer Generation, selbstverständlich wurde auch Edith Sitwell christlich erzogen und biblische Themen fließen in ihre Gedichte ein. Dass sie 1955 im Alter von 68 Jahren zum Katholizismus konvertierte, mit dem (1930) ebenfalls konvertierten Schriftsteller Evelyn Waugh als Paten, ist nicht allgemein bekannt – sie äußert sich auch nicht zu den Beweggründen, die zu diesem Schritt geführt haben mögen und erwähnt ihn noch nicht einmal in ihrer Autobiografie, die sie kurz vor ihrem Tod 1964 vollendet hatte (Mein exzentrisches Leben, im Original zutreffender Taken Care of).

Wenn man allerdings ihre nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Gedichte liest, ist die intensive Hinwendung zu Jesus Christus nicht zu übersehen. Edith schreibt über den Reichen aus der Bibel (der von manchen „Dives“ genannt wird, was im Lateinischen „reich“ heißt, Lukas 16, 19–31) und über den armen Lazarus, dessen Geschichte sie ganz gewiss auf ihre reiche Familie und ihr „armes“ Londoner Dasein bezieht. In Osbert Sitwells Worten: „In dieser Riesenstadt wohnten nebeneinander ein ganzes Volk von Reichen und eine Nation von Armen, ganze Stämme schrecklicher Trunkenbolde und endlose Scharen von Krüppeln mit Körpern wie knorrig verwachsene Weidenstrünke.“ Sie schreibt über Kain, über das Leiden Christi: „Doch auch mit dem armen Christopher Smart pries ich Jesus Christus mit der Rose, und sein Volk, das eine Nation aus lebender Sanftheit ist.“ Die Zeit des Experimentierens war vorüber.

In Der Schatten des Kain, 1945 begonnen, entfernt sich die Menschheit von der Sonne, „der Sonne, die Christus ist“. In diesem Gedicht geht es um die Aufspaltung der Welt in miteinander Krieg führende, zerstörerische und sich selbst zerstörende Teilchen, um „die allmähliche Wanderung der Menschheit im Anschluss an den Zweiten Sündenfall, der in Gestalt der Trennung des Bruders vom Bruder stattgefunden hat, Kains von Abel, einer Nation von der anderen, der Reichen von den Armen – die spirituelle Wanderung all dieser in die Wüstenei des Goldes, hin zur endgültigen Katastrophe, deren erstes Symbol auf Hiroshima herniederfiel“. Brüderlichkeit, ein immens wichtiges Lebensthema von Edith Sitwell, der eine Trennung von ihren Brüdern unvorstellbar sein musste.

Prophetische Verse. Was würde Edith Sitwell zu unserer heutigen Welt sagen? „Bevor der letzte Krieg zu Ende war, hatte ich nahezu alle Menschen kennengelernt, die ich jetzt als Freunde betrachte.“ Dazu zählen auch der tiefreligiöse, katholische Dichter und Abenteurer Roy Campbell (1901–1957) und Dylan Thomas (1914–1953), dessen künstlerisches Genie sie hoch verehrt („Dichtung ist für ihn Gebet“), wohl wissend um seine persönliche Gefährdung. Beide Dichter konnten sich ihrer verlässlichen Freundschaft und Unterstützung gewiss sein. Ihr früher Tod ließ sie voller Trauer zurück.

Hätte Edith Sitwell längere Zeit in Amerika verbracht, wäre sie sicher eine ebenso treue Freundin für Marilyn Monroe geworden, der sie bei einem Hollywood-Aufenthalt im Haus des Filmregisseurs George Cukor vorgestellt wurde. Sie war entzückt von der Intelligenz und natürlichen Würde „Miss Monroes“ („im Ruhezustand lag auf ihrem Gesicht in manchen Augenblicken eine sonderbare prophetische Tragik, es war das Gesicht eines schönen Geistwesens (…), der Ophelia war“). Die beiden Damen unterhalten sich über Rudolf Steiner, mit dessen Schriften sich der Filmstar gerade beschäftigte. Los Angeles, dessen Schattenseiten abseits vom Glamour der Filmwelt voller Armut und Gleichgültigkeit sie nicht ausspart, erscheint ihr als Horrorszenario – mehr noch als London in den zwanziger Jahren – sie glaubt, das oft vorhergesagte Ende der Welt sei möglicherweise dort schon angekommen.

Ihre kurz vor dem nahen Tod fertiggestellte Autobiografie endet mit den Sätzen: „Sie kommen nach wie vor zu mir. Aber bald werden die drei Nornen ihre Besuche einstellen. Dann wird alles vorüber sein, abgesehen vom Schreien und den Würmern.“

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